Das Scheckbuch bestimmt die Stadtkultur

■ In Berlin wird auch unter einem rot-grünen Senat nach alten bürokratischen Kategorien geplant / Stadtplanen heißt Kultur planen

Zu den Koalitions-Auseinandersetzungen fällt mir zumindest öffentlich nichts ein. Als Künstler will ich mich nicht einmischen, als Wahlbürger habe ich natürlich eine Meinung, und die ist von beiden Parteien, ob rosa oder lila, keine gute. Die sogenannten Linken tun sich schon immer schwer mit Kultur. Wobei mir einfällt, daß ich heute schon wieder nicht richtig esse, auch ein Verfall von Kultur, das bringt der Job so mit sich.

Seit der industriellen Revolution, seit der Reichsgründung, seit über einem Jahrhundert wird in Berlin historisch geprägter Boden den Bürgern unter den Füßen wegverkauft und umgewidmet.

Wir hofften auf die rot-grüne Koalition. Wir hofften auf einen humaneren, phantasiereicheren Umbau der Baustelle Berlin. Seit dem 9. November erhöht sich das Bautempo. Aber niemand baut. Eine Stadt darf kein Verwaltungsort sein, sondern Kulturort. Die Chance zu mehr Stadtkultur ist da. Keiner nutzt sie. Am Potsdamer Streit-Platz sollten 20 Zelte stehen statt einer Großfirma. Im alten Zentrum muß es wuseln und grünen, da wollen wir feiern. Einkaufen können wir woanders. Eine Metropole muß sich ein eigenes Gesicht geben.

Berlin-West leistete sich vier Jahrzehnte das Schaufenster des Westens. War das identisch mit den Bedürfnissen seiner Bürger? 1990 geht es wieder einmal an allen Wünschen vorbei. Das Scheckbuch bestimmt die Stadtkultur. „Kultur für alle“ war in Frankfurt die Parole. Sie wurde nicht eingelöst. In Berlin wird nach alten bürokratischen Kategorien geplant, nach altem Kulturdenken, nach den Mechanismen der Repräsentation. Die kleine Ausnahme bestätigt große (überholte) Regeln. Aber keine Kultur für alle.

Der „antifaschistische Schutzwall“ lockt keine neuen Touristen mehr in die Stadt. Locken kann die Inszenierung einer Großstadt, die aus kultureller Vielfalt lebt, die zum ersten Mal das Unfertige, das nicht zu Ende Verplante wachsen läßt, die nicht alles bürokratisch verregelt. Stadtplanen heißt Kultur planen. Kultur ist kein Finanzakt. Wenn wir als Besitzer unseres ganz privaten kulturellen Überschusses denken, dann heißt es, diesen Reichtum zu verausgaben. Dazu braucht es Stadträume, städtische Zonen. Kulturpolitik in Berlin ist derzeit Taschengeldkontrolle.

Die Stadt ist im Umbau, unser Theater, die Freie Volksbühne Berlin, ist im Umbau. Vielleicht werden wir für ein paar Monate ein mobiles Theater; wir werden mitwirken an der Erfindung von neuen Kulturorten und Darstellungsformen in der Stadt. Wir möchten Gas geben und fühlen uns gebremst. Momper sagte nach dem Fall der Mauer: „Vor allem brauchen wir die kritische, aufklärerische Kraft der Künste, um nicht selbstgefällig und behäbig die Chancen der Veränderung zu verpassen.“

Hermann Treusch, Intendant der Freien Volksbühn