Baupolitik ist immer Machtpolitik

■ Was passiert mit den Koalitionsvereinbarungen „Bau“ nach dem 2. Juli? / Der Populist Nagel regiert ohne Sachprogramm

Bausenator Nagel, der sich im Spätherbst die Vereinbarung von 28.000 Neubauwohnungen auf 35.000 Wohnungen hochsetzen ließ, ist in den vergangenen Monaten der Frage, ob diese Zahl noch allein für West-Berlin gilt oder ob nicht westliche Aktivitäten auf den neuen größeren Raum verteilt werden müssen, geschickt ausgewichen. So schnell will er den Druck, an dem er so angestrengt gearbeitet hat, nicht zurückfahren, und die Angst, plötzlich als Papiertiger zu erscheinen, ist noch nicht ganz abgebaut. Zurück zum März 1989: Die Koalitionsvereinbarung zum Komplex Bauen und Wohnen stand ganz im Zeichen des Megaprogramms Wohnungsneubau und der Warnungen, daß dadurch andere wichtige Themen an den Rand gedrängt werden und daß jeder rigide Realisierungsversuch schnell in einen Konfrontationskurs gegen die Betroffenen münden kann. Die Bilanz nach 450 Tagen ist durchwachsen. Die Zielzahlen wurden erreicht. Der Opposition wurde keine Gelegenheit geboten, bei diesem Thema Punkte zu machen.

Die Nebeneffekte der neuen Wachstumseuphorie sind andererseits nicht zu übersehen: Das Baugeschäft liegt weiter in den Händen der privaten Gesellschaften. Der Neubau hat alle anderen Entwicklungsinitiativen an den Rand gedrängt. Beim Dachausbau wird weiter kein Widerspruch zugelassen, und die Kostenmieten nähern sich neuen Rekordhöhen. An den kritisierten Finanzierungsmodellen hat sich wenig geändert. Die Langfristbelastungen des öffentlichen Haushalts werden bösartig sein, und den Rest besorgen die Spekulanten, den vor allem in den Altbaugebieten wieder einmal Tür und Tor geöffnet ist. Die Schatten der verfehlten Baupolitik der siebziger Jahre sind für viele bereits wieder sichtbar - aber die sollen hier nicht beschworen werden!

Schließlich greift alles nach der Zukunft - Nagel auch. Sein fester Wille, ohne Sachprogramm, nur gestützt auf loyale Hilfstruppen, in Ost- und West-Berlin gleichzeitig zu regieren, überschattet gegenwärtig alle baupolitischen Detailfragen, weil baupolitische Fragen immer Machtfragen sind. Man hat den Eindruck, daß hier Stellungen bezogen werden, aus denen heraus ohne kontrollierende Debatte Fakten geschaffen werden können, die sich ihrer normativen Kraft von vorneherein sicher sind. Ist das etwas anderes als unverhüllte Autokratie der Exekutive bei freiwilliger Selbstentmachtung des Parlaments? Da Populisten immer glauben, nicht mehr als ein selbstloses Werkzeug des Volkswillens zu sein, wird Nagel solche Anmutungen natürlich mit erhobenem Haupt zurückweisen. Aber wie will er uns den Unterschied zwischen der kritisierten „Wiedervereinigung als Privatsache Kohls“ und den eigenen Unternehmungen klarmachen? Und das alles ohne die Andeutung eines Programms! Wird es denn ab 1991 einen Wohnungsbau in der DDR geben, der von hier aus öffentlich gefördert wird? Wie entwickeln sich tatsächlich die Folgekosten für den Westhaushalt, wenn dieser mittelfristig zurückgefahren werden muß bei gleichzeitiger Explosion der Kostenmieten? Wie lange wird es überhaupt einen eigenständigen Westhaushalt geben, und was passiert in den Erneuerungsgebieten, wenn sich der Senat so abrupt verabschiedet? Wenn unser Mann tatsächlich soviel zusätzliche Verantwortung übernehmen will, sollte er uns dazu vorher Rede und Antwort stehen.

Wulf Eichstädt, Stadtplaner