Weichsitzer

Demokratiespiel ohne Spaß nach der Wahl in Ost-Berlin  ■  K O M M E N T A R E

Der Glanz der Politikpremieren ermattet. Zwar haben sich die DDR-Wähler gelehrig mit den zwo mal drei Kreuzen auf den großen Zetteln angestellt. Jedoch einen Monat nach der freien, demokratischen Kommunalwahl sehen sie sich mit den unvorhergesehenen Folgen konfrontiert. Das Wort „Beschiß“ macht die Runde. Anders als nach dem vorjährigen Zettelfalten, denn das neue Parlamentsspiel ist feinsinniger. In Berlin, Hauptstadt der DDR, ist Kammerdiener Schwierzina vollauf beschäftigt, seinem neuen Hausherrn Momper diensteifrig Rathaustore zu öffnen. Die im gleichen Hause vielgescholtenen „Politikverweigerer“ vom Bündnis 90 bekommen im nachhinein recht, bloß daß sie fälschlicherweise ihre moralische Ablehnung auf die CDU beschränkten. Die darf derweil in acht von den elf Rathäusern ein paar Sessel ihrer früheren Blockfreundin bis zur nächsten Wahl weichsitzen. Daß etwa 80 Prozent ihre Kreuze links von der Mitte setzten, ist in dem Spiel nicht eingeplant. Nur in drei Enklaven gibt es linke Konstellationen. Der Irrtum schimmert langsam durch. Die Sorgen der Wähler werden nicht mehr live an Runden Tischen verhandelt, sie verhallen im Gehörgang des erwählten Volksvertreters. Unterdessen sprießen die an die Grünzonen verwiesenen Bürgerbewegungen fröhlich wie Butterblumen und freuen sich über die aufgebrochene Verbotskruste. Freie, demokratische Wahlen - das Spiel will erst gelernt sein. Daß es besonderen Spaß macht, hat niemals jemand behauptet.

Susanne Steffen