Nach vorn denken ist gefragt!

Kollegin Schnell, Abteilung Sozialwesen, parteilos (und zwar schon immer)  ■  D O K U M E N T A T I O N

Anfang März schrieb Inge Viett, die unter dem Namen Eva Schnell in der DDR lebte, erstmals einen Artikel für die Betriebszeitung 'Motor‘ des Karl-Liebknecht-Kombinats. Die taz gibt ihn im Wortlaut wieder.

Im letzten 'Motor‘ waren vier Beiträge vom Neuen Forum zu lesen, und da hab‘ ich den Brief von Peter Schumacher gleich mitgezählt. Ich muß sagen, sie „kotzen mich an“, um mal mit den Worten des Kollegen Killinger zu sprechen. Daß ihr keine Antworten auf die brennenden Probleme unseres Landes, ja nicht mal unseres Betriebes habt, ist bekannt. Bei eurem politischen „Weitblick“, der nicht weiter als bis zur nächsten Kreisstelle des ehemaligen MfS reicht, bei eurer beschränkten und verbissenen Anti-SED-PDS-Politik, wundert dies auch keinen denkenden Bürger.

Kollege Killinger, ich möchte behaupten, daß du mit offenen Augen schläfst, wenn du die Möglichkeit eines neuen Schnitzlers, einer Nasi, Stasi etc. heraufbeschwörst. Schau dich mal um, vielleicht bemerkst du, auf welchem Stand die rasante Entwicklung zur Verflechtung mit der BRD bereits jetzt schon ist. Und dies ist erst der Anfang einer nicht mehr umkehrbaren Entwicklung. Einer Entwicklung, die bewältigt werden muß mit gesellschaftlichen Kräften unseres Landes, die in der Lage sind, die damit verbundene Instabilität und das Anwachsen der irrationalen Elemente in Grenzen zu halten. Wenn dies nicht gelingt, dann gibt es in diesem Land bald nichts mehr zu erneuern.

Ich möchte dich in diesem Zusammenhang auf den Artikel in der 'Volksstimme‘ (Magdeburger Zeitung, d.Red.) vom 18. Januar 1990 aufmerksam machen: “...Die Gewalttätigkeiten in der DDR haben nach Worten des ehemaligen hochrangigen USA -Diplomaten George Kennan einen solchen Grad erreicht, daß sich die vier Mächte auf die Notwendigkeit der Etablierung einer Übergangsregierung einrichten sollten... Eine Möglichkeit, Gefahren zu bannen, bestünde darin, daß die vier Mächte - USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich die Ordnung in der DDR aufrechterhalten. Die BRD sollte daran beteiligt werden...“

Liebe Kollegen Killinger, Kelch und Weigelt, ich möchte euch angesichts dieser Möglichkeiten raten, eure Stasi-, Nasi- und Verfassungsschutzschubladen zu erweitern um CIA, FBI, BND, Staatsschutz, und wie sie alle heißen mögen. Sicherlich werden unsere Bürger dies bald dringender brauchen. Eure kleinkarierte dümmliche „Politik der Ausnutzung des Volkszorns“ für Ziele, die keinem richtig deutlich werden, geht an den Problemen der gesellschaftlichen Erneuerung völlig vorbei!

Die Gewerkschaftsfrage, ein brennendes Problem, das in der Zukunft mit der Existenzfrage der Werktätigen verknüpft sein wird!

Es sind Wahlen, und die Werktätigen gehen nicht hin. Was ist los mit unseren Werktätigen, haben sie plötzlich den Verstand verloren? Wir gehen mit Meilenstiefeln auf die freie Marktwirtschaft zu. Deutlich: auf den Kapitalismus! Wie wollen sich die Werktätigen ohne gewerkschaftliche Organisation gegen das Kapital behaupten? Es ist abzusehen, daß unsere Betriebe nicht mehr von einem GD (Generaldirektor, d.Red.) geleitet werden, der durch die sozialistische Schule gegangen ist und in seinem Herzen noch einen Zipfel vom Bestreben der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik trägt, sondern von einem knallharten Management, in dem Begriffe wie Kosteneinsparung, Gewinnerwirtschaftung, Profittransfer im Zentrum des Handelns stehen.

Streik heißt auf der Arbeitgeberseite: Aussperrung, Kündigung, Lohnabzug. Keine Gewerkschaft, keine Beiträge, keine Streikkasse. Was habt ihr in diesen Fragen zur Orientierung der Werktätigen beigetragen?

Einen Bärendienst allerdings hat in dieser Frage Peter Schumacher geleistet. Mitten in der Wahl einem mißliebigen Kandidaten für die BGL noch schnell die Beine weggehauen! Bravo! Eine Glanzleistung der Desorientierung und Vergiftung! Die Uniform der Betriebskampfgruppen getragen zu haben, ist nichts Ehrenrühriges, oder willst du Hunderttausende Arbeiter gleich mit diskreditieren? Da kann ich als Vertrauensfrau nur froh sein, daß du ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär bist.

Und was das grüne Bändchen angeht: Dahinter steckt lange nicht immer ein Erneuerer. Ich hab‘ im Dom und danach auf der Straße massenhaft Träger des grünen Bändchens gehört und gesehen, die sehr gut wußten, wie uralte antimenschliche Triebe wie Lynch- und Henkergelüste zu schüren sind. Der Begriff Chaot wäre da noch eine Liebeserklärung.

Es geht doch darum: nach vorn zu denken, sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten, die jedem Bürger die Existenz sichert!

Unsere U- und S-Bahnhöfe sind nicht dergestalt, daß Arbeits - und Wohnungslose dort nächtigen könnten. Und ich möchte auch nicht die Peinlichkeit erleben, vor unseren Kaufhäusern (oder wem sie dann auch gehören mögen), von einem Mitbürger um 'ne Mark angebettelt zu werden.

Ich bitte alle politisch Interessierten, darin mitzuwirken, daß Emotionen, die sich nach jahrelanger Frustration und Enttäuschung entladen, wieder in konstruktive, zukunftsorientierte Bahnen kommen. Alles andere ist verantwortungslos und verspielt die Chance, eine wirklich demokratische, humanistische, soziale und antifaschistische Gesellschaft aufzubauen.