Der Rückgriff auf den Antiintellektualismus der Arbeiter hat im Balkanstaat eine lange Tradition

Die Eingangstore des staatlichen Landwirtschaftsbetriebes stehen weit offen. Es ist ein früher Nachmittag kurz vor der Wahl Mitte Mai. Vor den mit Kalk getünchten Wirtschaftsgebäuden stehen einige Arbeiter in ihrer blauen Kluft, trinken ein paar Schluck Wasser und warten auf den Lastwagen, der sie auf die Felder bringen soll. Sie haben Zeit für ein Gespräch. Von der Agrarreform haben sie bisher noch wenig gehört. Die Ausführungsbestimmungen aus Bukarest seien noch nicht bekannt. Ob sie eigene Forderungen hätten, oder gar Privatbauern werden wollten? Sie lächeln und verneinen. Sie wüßten nicht, was sie fordern sollten. Aber wenn die Reform komme, würden sie sich schon dran halten.

Die meisten wohnen nicht mehr auf dem Land, sondern in dem etwa 20 Kilometer entfernten Craiova, der nach Bukarest größten Stadt der Walachei. Sie fühlten sich wohl als Arbeiter und seien noch nie Bauern gewesen. Als private Bauern zu arbeiten, komme ihnen gar nicht in den Sinn. Etwa 200 Menschen sind auf dem Gut beschäftigt. Ihr Verdienst, etwa 2.500 Lei (nach dem Schwarzmarkkurs 50 DM), ist in Rumänien ein durchschnittliches Einkommen. „Uns geht es nicht schlecht, von der Kolchose bekommen wir auch noch Naturalien.“

Den politischen Wandel begrüßen sie. Iliescu, das ist für sie keine Frage, ist ihr Held. Er habe Ceausescu - „dessen Tochter auf unsere Kosten in Paris Kleider einkaufte“ gestürzt und sei ein guter Mann. Die „Extremisten“, die in Bukarest gegen Iliescu demonstrierten, seien vom Ausland bezahlt. Die demokratischen Parteien, vor allem Ion Ratiu, der Führer der Bauernpartei, wollten die alten Großgrundbesitzer wieder einsetzen. Viele Polizisten, so berichten sie, seien seit der Revolution aus der Gegend verschwunden, „die sind jetzt in Siebenbürgen und werden von den Ungarn ermordet“. Von wo sie die Information haben, können sie nicht sagen. Vielleicht aus der Zeitung oder aus dem Radio, alle Leute erzählten sich das. „Das ist doch furchtbar.“ Die Ungarn sollten wieder freundlich zu den Rumänen sein.

Auch nach der Revolution brodelt in Rumänien die Gerüchteküche, dieses Gemisch von Lügen und Halbwahrheiten, die von interessierter Seite ausgestreut werden. Wie absurd sie auch immer sein mögen, viele nehmen sie begierig auf. Das von Ceausescu kultivierte System, mit gezielten Gerüchten Politik zu machen und Aggressionen auf bestimmte Bevölkerungsteile zu lenken, ist noch nicht überwunden. Fungierten einmal die Ungarn, ein anderes Mal die „Zigeuner“ als Blitzableiter, sind es in den letzten Wochen zunehmend jene großstädtischen Studenten und Intellektuellen, die ständig demonstrieren und den „Frieden“ stören. Zwar sind über 900 Zeitungen vor allem in Bukarest und anderen Großstädten entstanden. Die Meinungsvielfalt im Ganzen ist in Rumänien breit geworden. Doch hier auf dem Lande sind in der Regel nur zwei Regionalzeitungen erhältlich. Und die sind fest in der Hand der „Front der nationalen Rettung“. Und Rundfunk und Fernsehen sind ohnehin unter staatlicher Kontrolle.

Nicht einmal diese Zeitungen sind reine Propagandainstrumente. Doch die Journalisten hier ließen während des Wahlkampfes und danach keine Gelegenheit aus, die demokratische Bewegung von Bukarest, Temeswar sowie der Großstädte Siebenbürgens zu diffamieren oder ihre Exponenten persönlich herabzusetzen. Das inzwischen berühmte Wort „golan“ (Rowdy, Hooligan), mit dem Iliescu die seit dem 24.April auf dem Universitätsplatz in Bukarest demonstrierenden Menschen bezeichnete, wurde zwar von den Angegriffenen umgedreht und als „Ehrenname“ angenommen. Sofort tauchten T-Shirts mit der Aufschrift „golan“ auf. Auf Transparenten bekannten sich Tausende, „golan“ zu sein. Doch von Iliescus Seite war die Diffamierung ernst gemeint. Die „Unruhestifter“, die „Krakeler“, die „langhaarigen und bärtigen Affen“ können bei den Arbeitern in Stadt und Land bisher kaum auf Sympathien hoffen. Noch nach der letzten Wahlkundgebung Iliescus waren Zehntausende seiner Anhänger bereit, vor die Universität zu ziehen und eigenhändig mit dem „Spuk dort Schluß zu machen“.

Mit dem von der Diktatur systematisch gepflegten Antiintellektualismus - der Schuster Ceausescu und seine Frau Elena wollten als geistige Größen anerkannt werden, der Titel „Elena, die größte Chemikerin aller Zeiten“ war dafür bezeichnend, sie wußten aber zugleich um ihre Grenzen schuf die Diktatur eine Basis im Volk. Das gegen Privilegien anderer Gesellschaftsschichten gerichtete Klassenbewußtsein der Arbeiter wurde zwar von der Diktatur genutzt, zuletzt richtete es sich jedoch auch gegen den Diktator selbst. Der aber seither weiterhin wirksame und weiterhin von den Massenmedien der „Front“ gepflegte Antiintellektualismus der Arbeiter verbindet sich heute mit latenten ökonomischen Ängsten vor den Auswirkungen der Reform.

Für andere Schichten ist er sogar ein Ausdruck der Angst vor der „Abrechnung“. Alle haben ja funktioniert. Die kleinen Spitzel und Zuträger, Hausmeister und Bürokraten. Das gefährliche Gemisch eines latenten Mobs wurde damals, kurz vor der Wahl, in Bukarest noch von den Dirigenten der „Front“ zurückgehalten. Seit Mittwoch aber ist dies anders. Seit Mittwoch hat die „Front“ ihren Anhängern freie Hand gelassen. Die mit Eisenstangen und Knüppeln bewaffneten Arbeiter, die mit Lastwagen in die Stadt gebracht und von Militärlastwagen aus versorgt werden, machen jetzt Jagd auf alles, was der Demokratiebewegung zugerechnet wird.

Dieses Vorgehen hat Methode und Tradition. Es erinnert an die Massenschlägereien in Tirgu Mures Mitte März 1990, als einige hundert Rumänen in die Stadt gebracht wurden, um gegen Angehörige der ungarischen Minderheit vorzugehen. Auch damals sind die rumänischen Schläger mit Bussen in die Stadt gebracht worden. Und schon im Februar rief Iliescu Bergarbeiter nach Bukarest, als es zu ersten regierungsfeindlichen Demonstrationen kam. Was damals noch eine Drohgebärde war, ist in diesen Tagen zur blutigen Wirklichkeit geworden. Und das, nachdem die Polizei am Dienstag die Demonstration vor der Universität mit Gewalt auflöste und damit Gegendemonstrationen provozierte.

Aufhorchen läßt die Begründung für die Mobilisierung der „Massen“, die die rumänische Regierung gab. Die Polizei sei „schwach gewesen“ bei der „Niederschlagung der extremistischen Elemente“ und habe die tolerante Haltung der Regierung falsch interpretiert. „Unter diesen Umständen und um Blutvergießen und Chaos zu vermeiden, war die Regierung gezwungen, die Bevölkerung um Untersützung zu bitten.“ Aus dieser Begründung spricht, daß sich die Front der Polizei nicht sicher sein kann. Die politische Atmosphäre in der Hauptstadt entspricht nicht mehr der auf dem flachen Land. Wie in Temeswar hat auch in Bukarest die Front nur eine knappe Mehrheit bei den Wahlen erhalten. Iliescu, der sich demokratisch gebende Reformkommunist, hat mit der Räumung des Platzes und der Mobilisierung seiner Anhänger die schlimmsten Befürchtungen der Opposition genährt: Vielleicht ist die Front tatsächlich nur die Verlängerung des alten Regimes mit anderen Mitteln.

Erich Rathfelder