Dies mein nüchternes Sehen

■ Neu bei Donat: Biographie der frauenbewegten Pazifistin Auguste Kirchhoff (1867 -1940)

„Aber nicht nur war Kirchhoff bisher vergessen, auch die Bilanz ihres Wirkens ist niederschmetternd: Das Stimmrecht war Ergebnis des Ersten Weltkrieges, den sie bekämpft hatte. Der Mutterschutz wurde durch ihre ärgsten Feinde, die Nazis, verwirklicht, ihre Friedensarbeit mit dem Zweiten Weltkrieg beantwortet.„

Beschließende Sätze aus der Biographie Auguste Kirchhoff, die in diesen Tagen im Bremer Donat-Verlag erscheint. Die Biographin, Henriette Wottrich, ist eine Enkelin der stattlichen „Frau Senator“ Kirchhoff. Die hat in ihrem um die Jahrhundertwende in der Graf-Moltke-Straße erbauten Patrizierhaus in Bremen fünf Kinder groß gezogen, in Musik geschwelgt, (oft zusammen mit ihrem Mann, Landgerichtsdirektor, Senator, Liberaler, Klavierspieler), hat viele Freundschaften und ein gastfreundliches Haus mit vielen Dienstboten geführt, die Bremer Haute Volee seit 1906 mit ihrer Politik für die unehelichen Mütter und Kinder geschockt, später durch die zum Schutz der Prostituierten, hat für Frauenstimmrecht agitiert und sich nach 1914 mit ihrem Pazifismus in Bremen total unmöglich gemacht hat.

Die Enkelin, das Eingangszitat beweist's, neigt nicht zum Heroisieren. Sie hat ein extrem nüchternes Buch vorgelegt, nix füllige, gütige Großmutter, die die

Kirchhoff ohne Zweifel auch war -, sondern ein materialreiches und dennoch schlank lesbares Buch, das sich eng an Kirchhoffs Vita hält. Dabei kommt viel Geschichte der alten Frauenbewegung in den Blick, dessen radikalstem Teil, dem „Bund für Mutterschutz“, sie angehörte, viel Bremer Kultur-, etwas Bremer Kirchengeschichte, viel Geschichte der Friedensbewegung, aber immer nur insoweit es über die Biographierte selbst sichtbar wird. Manchmal greift das zu kurz. So, wenn Kirchhoffs Lamento von 1920 über die „lieblichen Mädchenverhältnisse“ (Dienstmädchen arbeiten zu wenig und zu teuer) nur als private Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der „bürgerlichen Frauen der Frauenbewgung“ apostrophiert wird. (S. 82). Ein Absätzchen über das grundsätzliche Wegfallen des „Dienstmädchens“ nebst Verarmen der Bürgerhaushalte nach 1919 wäre schon am Platz gewesen, Literatur dazu gibt es auch, nur hat die Autorin den Rahmen dessen, was sie interessiert, auf die Vita begrenzt.

Ansonsten hat ihr Enkelinnenstatus sie zu eher allzu skeptischen Schlußbemerkungen veranlaßt. Wottrich hält Kirchhoffs Appelle zur Geburtenregelung für fruchtlos, weil deren jüngere Töchter selber wieder fünf bis sechs Kinder hatten. Geburtenregelungen hieß ja, auch bei Kirch

hoff, nicht: so wenig Kinder, wie's geht, sondern: nur soviele, wie frau wirklich will.

Ansonsten hat die Enkelin mit über 400 in Familienbesitz befindlichen Kirchhoff-Briefen eine wunderbare Quelle -exklusiv - verarbeitet. Die gibt Auskunft über alles: von Augustes Neigung zu großen Hüten und nach-Hamburg-zum Photographen-Fahren bis zum Muckertum, das in Bremen 1914 gegen ihr Eintreten gegen den Krieg ausbrach: Postzensur, Redeverbot, das auch ihr Mann richtig fand, der sonst mit ihr durch dick und dünn ging, mit gesellschaftlichem „Schneiden“, mit öffentlicher Hetze. Auguste hat's verbittert, aber nicht geändert. Das Buch beginnt mit einem Brief an ihre Tochter Else, für den allein das Buch lohnte.„Wo ist das Land, von dem Du sprichst?“ fragt sie die von Kriegsbegeisterung Verwandelte.„Ich sehe Verrohung und Unkultur, geschändete Frauen, geschlechtskranke Soldaten, Krüppel, Witwen, Waisen, Krankheiten; und siehst Du, mein Kind, über dies mein nüchternes Sehen wahrer nackter Tatsachen trägt mich keine Begeisterung hinweg, die, wie Du schreibst, 'das Einzige ist, was ruhig und reich machen kann in dieser Zeit, die uns ohne diesen Glauben zerbricht und verschlingt.'“

Uta Stolle