DIE ENTLOCKTE

■ Auch ich habe meinen Skalp gelassen

Es begann damit, daß ich mich der 'Bravo'-Lektüre ergab, Winnetou durch die BeeGees ersetzte und die Apachenschwestern durch Schaumgeborene a la Brigitte Bardot. Deren Kennzeichen war bekanntlich die blonde Mittelscheitelaureole, die sich im Zweifelsfall bis zur Minirockkante ergoß; die Frau, die in ihrer Muschelexistenz keinen Körper mehr brauchte, war eine Komposition aus Augenaufschlag, Haarfließ und Bein. Nun hatte mich die Natur mit einem dunklen Afrofilz angereichert; Angela Davis existierte als Anlehnungsmodell in der Galerie meiner zweiten Naturen nicht. Vom Neger zur weißen Frau: beim Friseur wurde es möglich. Er hat mich für kurze Zeit in das Reich der Umflorten hineintranssubstantialisiert.

Die Prozedur war denn auch teuflisch. Sie bestand aus der Anwendung eines Extrakts, das in die Haarwurzeln eingerieben wurde und das durchdringend nach Kuhpisse roch. Dann kam das wirkliche Opfer: als der Friseur seinen feinen Kamm anlegte und damit durch meine Filzsträhnen ging. Vom Haaransatz bis

-ende ziehend wurde jede einzelne Haarsträhne ihres Kräuselwillens beraubt. Der Kamm blieb an den Kurven, Knoten, Verdickungen, Verfilzungen hängen: der Friseur zeigte sich unnachgiebig und lockerte zweiundzwanzigjährigen, urtümlich gewachsenen Haarurwald auf. Mit jeder Strähne hob er die Kopfhaut, riß an der Schädeldecke, rüttelte Schmerzzentren wach: von den Tränenströmen, welche er direkt in Gang setzte, erzählte das Spiegelbild.

Es gelang. Die vormals Afrogekräuselte hatte nun fließendes, glattes Haar. Sie strich mit der Hand um den Hals nach hinten und es flog in glatten Strähnen davon. Sie ließ die glatten Strähnen zwischen ihrem und Clemens‘ Gesicht hängen. Sie legte sie vor die Augen und sah ihn dahinter an. Sie ließ sie im Wind wehen. Bei den Küssen hatten sie sie beide im Mund.

Toll siehst du aus, sagten die Schulkameraden, Stolz floß ihr glatt den Rücken hinab. Da begann es zu regnen. Sie hielt sich die Schulmappe über den Kopf. Sie band sich ein Kopftuch um die Haare. Sie kaufte sich einen Regenschirm. Sie streckte die Haare und fesselte sie zu einem Knoten, sie hielt sie eng an den Kopf gepreßt. Es half nichts. Die Feuchtigkeit fuhr in die Spitzen und kräuselte sich bis zum Haaransatz hoch. Der weiche Fall war verschwunden, am nächsten Morgen waren sie wie früher zusammengezurrt. Clemens konnte sich nun nicht mehr in ihnen verstecken. Wenn er Zärtlichkeit in sie hineinstreicheln wollte, blieb er hängen und kam nur unter Mitnahme von Haarbüscheln heraus. Das Ganze bekam etwas verfilztes, Clemens zog sich da doch lieber endgültig zurück.

Als dann Momo fürs Kino entdeckt wurde, war Clemens mit einem Mal wieder da.

Michaela Ott