Der Preis der Schnelligkeit

■ Niemand wird bestreiten, daß der Individualverkehr zu den größten Umweltverschmutzern gehört. Doch eine Umkehr zum autofreien Dasein scheint nicht mehr möglich zu sein. Zu tief sitzt bereits die Selbstverständlichkeit der Mobilität in unseren Köpfen.

Von

PAUL F. DUWE

chon einige Jahre ist es her, da konnte die Alternative Liste Berlin einmal einen wahrhaft kuriosen PR-Erfolg landen. Eine dünn besetzte Mitgliederversammlung hatte sich doch mit knapper Mehrheit für das öko-ideologische Maximalziel der „autofreien Stadt“ ausgesprochen. Wer nun aber dachte, die metropolitane Presse würde sich im Chor auf die alternativen Maschinenstürmer stürzen und deren „Spinnereien“ geradezu in der Luft zerreißen, sah sich auf bemerkenswerte Weise getäuscht.

Vielleicht weil die Vorstellung einer automobilfreien Gesellschaft so offensichtlich utopisch war, erntete die AL allerhand unerwarteten Beifall. Nichtsahnend hatte die zufällig zusammengewürfelte Igelschar einen sensiblen Nerv getroffen: Stell dir vor, du trittst vor die Haustür und die Straßen sind leer! Doch statt eines Angstschreis folgte demonstratives Verständnis. Endlich konnte man sich einmal kraftvoll das schlechte Gewissen von der Seele reden.

Die Folgen dieser Episode sind bekannt. Trotz der verbalen Quertreiberei der AL boomt der motorisierte Individualverkehr seit Jahren wie nie zuvor. Immer mehr Autos verstopfen die Straßen. Zu den Karossen der Marktwirtschaft gesellten sich seit dem 9. November jene krachenden, qualmenden und stinkenden Vehikel aus dem realsozialistischen Alptraumland.

Doch die stolzen Trabi- oder Wartburglenker aus Cottbus und vom Prenzlauer Berg lieben ihr Gefährt eher noch inbrünstiger als die Wirtschaftswunder-verwöhnten Gaspedaleure aus dem Westen. Der Rausch der fast unbegrenzten Mobilität, die ja auch Freiheit ist, erfaßte nun erst recht die Ostdeutschen.

Was nützen da schon die zahllosen einleuchtenden Kosten -Nutzen-Rechnungen von Umweltökonomen. Kein ernstzunehmender Mensch wird es heute wagen, der These vom Auto als dem Umweltverschmutzer Nr. 1 zu widersprechen. Es verbirgt sich hinter dem Konflikt wohl mehr ein psychologisches Menschheitsproblem, an dem jeder moralistische Aufklärungseifer scheitern muß.

atürlich wäre es eine Wonne, wenn das Fahrrad als Fortbewegungsmittel das Automobil verdrängen könnte, doch wir leben nun mal nicht im Biedermeier und auch nicht in China. Die Zeit hat uns längst zu Untertanen gemacht, der Preis für den zerstörerischen Luxus der Wohlstandsgesellschaft. Ein Ausstieg ist nur durch Systemverrat zu haben. Auf einer einsamen Insel in Indonesien oder in der Obhut eines indischen Gurus kann die Freiheit vom Auto wohl grenzenlos sein, in der kontemplativen Einkehr liegt die wahrhafte Alternative.

Doch diese Radikalkur wollen auch die Anhänger der autofreien Stadt nicht. In einer verbal alternativen Variante sind sie gute Kinder der Konsumgesellschaft, die den intensiven Verbrauch von Raum und Zeit zum Prinzip erklärt. Auch AL-Parlamentarier jetten in der Osterpause schnell mal nach Gomera oder hetzen mit dem eigenen Auto oder dem Taxi von Termin zu Termin.

Als kürzlich Umweltsenatorin Michaele Schreyer von ihrem Büro in der Lindenstraße per pedes zu einer Pressekonferenz in das Esplanade am Potsdamer Platz eilte, kam sie prompt um eine Viertelstunde zu spät. Da hatte sie sich zwar das umstrittene Gelände höchstselbst erlaufen, die Organisatoren der Veranstaltung aber bereits in hektische Nervosität versetzt.

Seine Gäste läßt man doch nicht warten, schon gar nicht, wenn es um so komplexe Vorhaben wie die gesellschaftliche Meinungsbildung geht. Die sachdienliche Verspätung der Senatorin, ein Akt der „Entschleunigung“, wird wohl eher die Ausnahme bleiben. Die Tempo'Tempo-Ideologie greift bei zunehmender Computerisierung immer effektiver in die Lebensabläufe ein.

Einem überschäumenden Angebot zu kreativer Tätigkeit und ästhetischem Genuß steht die Begrenztheit eines 24-Stunden -Tages gegenüber. Der Konflikt zwischen objektiv nutzbarer Zeit und divergierenden Offerten führt immer häufiger zu gefährlichen Streß-Symptomen, zu Herzinfarkt und Verkehrsunfall. Die durchmobilisierte Gesellschaft fordert ihre physischen Opfer, wobei ökologische Schadensrechnungen noch gar nicht berücksichtigt sind.

uch die Bahn erscheint nicht als die sinnvolle Alternative zu Auto oder Flugzeug. Die jetzt allerorten konzipierten Höchstgeschwindigkeitsstrecken folgen nur der herrschenden Verkehrslogik des „schneller, schneller“ und versprechen ansonsten den beteiligten Tiefbaufirmen einträgliche Investitionsgewinne, während sie in großem Umfang die Natur zerstören.

Die Mobilität ist nicht umsonst der Fetisch der modernen Industriegesellschaft. In ihr verbirgt sich der fatale Herrschaftsanspruch des Ingenieurs über das Universum, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Mehr und mehr werden die Menschen als Konsumenten Anhängsel technokratischen Größenwahns. Über die Zeit, als Reisen noch bildete, sind wir schon lange hinaus. Zu sehr sind unsere Wege fremdbestimmte Funktionen, die mehr der Mark(t)logik folgen als dem unmittelbar individuellen Antrieb.

Die Forderung nach der autofreien Stadt ist ja eben deshalb so sympathisch, weil sie schon von den Menschen her nicht zu realisieren ist. Im Grunde genommen ärgern sich doch die Autofahrer am wenigsten über den Stau, in dem sie gerade stecken. Gerne bringt man kollektiv dieses Opfer dem unumschränkten Götzen. Kein Autofahrer hat bisher sein Auto verkauft oder gar verschrottet, weil er einmal vor München in der Blechlawine stecken geblieben ist. Der pädagogische Nutzen solcher Erfahrungen wird häufig überschätzt. Der Stau - das ist viel mehr das solidarisch empfundene, gemeinsame Leidenserlebnis, der tief verwurzelte, kollektive Masochismus.

Viel zu sehr sind die Wohlstandsmenschen des Westens ihrem Konsumtrieb verfallen, als daß sie qua Vernunft oder allmählicher Einsicht zu radikaler Änderung in der Lage wären. Vor diesem Dilemma verblassen alle wohlmeinenden pädagogischen Ratschläge. Dies mußten auch die Grünen einsehen, die nun mit drakonischen Benzinpreissteigerungen den unbotmäßigen Autofahrern auf die Pelle rücken wollen. Angesichts noch demokratischer Verhältnisse dürfte diesem Unterfangen letztlich genauso wenig Erfolg beschieden sein.

Der Schlüssel zur Entlastung der arg geplagten Natur und öko-empfindsamer Menschen liegt noch am ehesten bei den Scheichs am Golf. Sollten sie erneut auf den Gedanken kommen, den Hahn wie 1973 zuzudrehen, dann könnte die Avus für längere Zeit zur Fahrradpiste werden. Daß unsere mobilitätsfanatische Gesellschaft sich aber ohne fremde Hilfe aus dem Abgasnebel zu befreien vermöchte, dazu ist es längst zu spät. Die Geister werden wir so schnell nicht wieder los.