Im Rausch der L Langsamkeit

■ Flanieren, Bummeln - wie aus längst vergangener Zeit muten diese Begriffe an. Wer hat schon die Zeit, gemächlich zu gehen, wenn scheinbar Dringliches zu tätigen ist und soviele Hilfsmittel für Schnelligkeit zur Verfügung stehen. Doch Langsamkeit, zögernder Schritt wird uns eines Tages alle einholen...

Von

KARL-HEINZ STAMM

ls ich nach langer Abwesenheit nach Frankfurt zurückkam und durch die Straßen und Gassen ging, da hatte ich eines jener Gefühle, die man schlecht beschreiben kann. Eine Mischung aus Geborgenheit, Wiedererkennen und wohliger Vertrautheit. Heimat nennt man das wohl. Und als ich daran ging, diese Gefühlslage zu ergründen, wurde mir klar: In der Zeit, in der ich als Student dort gelebt hatte, hatte ich mir die Stadt zu eigen gemacht. Nicht mit dem Auto, sondern vor allem per pedes. Die nächtlichen Fußmärsche vom Sinkkasten zu meiner Bockenheimer Wohnung, als die letzte Straßenbahn schon abgefahren war, die zahllosen Demonstrationszüge von der Uni zur Alten Oper, damit waren Prozesse der Aneignung eines fremden Terrains verbunden. Umgekehrt wurde offensichtlich, warum ich in Berlin nie heimisch geworden war: Zum einen bin ich mittlerweile stolzer Besitzer eines PKWs, zum anderen gibt es hier Nachtbusse, und drittens ist meine Bereitschaft zurückgegangen, meine politische Gesinnung straßenöffentlich zu demonstrieren.

Das Flanieren auf Straßen und Plätzen, das Schlendern, das Sehen und Gesehenwerden, wie es in den mediterranen Ländern üblich ist, es ist uns Nordeuropäern weitestgehend fremd. Und das liegt nicht nur daran, daß es so gut wie keine Boulevards mehr gibt - einzig die Kö‘ in Düsseldorf und der Ku'damm in Berlin laden noch zu einem Kommerz-Bummel ein sondern vor allem am Klima, das in unseren Breiten in der Regel dagegen steht. Gutes Wetter ist das sine qua non jedweden Flanierens und Bummelns.

Obgleich der Städtetourismus derzeit boomt, ist die hohe Zeit des Schlenderns vorbei. Es widerspricht dem Tempo einer Gesellschaft, in der die Umschlaggeschwindigkeiten von Waren und Informationen immer geringer werden. Ich behaupte deshalb: Der Jogger von heute ist die postmoderne Form des Flaneurs. Er ist die totale Negation des Privatiers, dessen Müßiggang einst eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung war, basierte die Flanerie doch auf der Vorstellung, daß der Ertrag des Müßiggangs wertvoller sei als der der Arbeit.

Schlenderte der Flaneur jenseits aller Zeitökonomie über Straßen und Plätze, so rennt der Jogger scheinbar sinnlos gegen die Uhr an. Er vernichtet Zeit und Raum, während der träumende Bummler sich genüßlich in ihr aalt. So berichtet Walter Benjamin, daß es 1839 elegant war, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen - was uns einen Begriff vom Tempo des Flanierens gibt. Der Jogger hingegen bringt Meile um Meile hinter sich, allein dem Imperativ von Aktivität, Agilität, ewiger Spannkraft und Jugend verpflichtet.

Spätestens seit der Dauerlauf, wie man ihn früher nannte, zu einer profitablen Industrie geworden ist, kann man dem Jogger auch die „Einsamkeit des Langstreckenläufers“ nicht mehr zugute halten. Das Bild vom sportiven Jüngling, der Felder und Auen durchquert und der dem Grundsatz mens sana in corpore sano gerecht wird, ist längst entschwunden, wälzen sich die Matadoren von heute - so gesehen beim alljährlichen Berlin-Marathon - doch zu Tausenden durch die Straßenschluchten unserer Großstädte. Das Laufen in der Masse, es ist die kollektive Unterordnung unter das Joch der Leistungsgesellschaft, die selbst noch für die arbeitsfreie Zeit ein ausgeklügeltes Zerstreuungssystem parat hat.

Auch hier dominiert das Zeitmaß: Wird die Arbeitswelt durch die Stechuhr dominiert, so findet in der Freizeitsphäre eine bereitwillige Unterwerfung unter das Diktat der Stoppuhr statt, die die vernichtete Zeit mißt. Allerdings sollte man dem Jogger eines zugute halten: Einmal im Jahr gelingt dem Marathon-Kollektiv ansatzweise das, was die Ökologiebewegung nie erreicht hat, die autofreie Stadt.

a meine Erinnerungen an die Zeit im Kinderwagen verblaßt sind, kann ich mich beim Thema Fahren nur auf gegenwärtige Auto- oder Bahnerfahrungen beziehen. Allerdings gibt es eine Szene aus meiner Kindheit, die noch gegenwärtig ist: Es ist das romantische Bild eines Heuwagens, auf dem wir als Kinder rücklings liegend in den Himmel starrten. Natürlich noch ohne Maß für Zeit und Raum, was auch daran lag, daß der Wagen meiner armen Tante von einer lahmen Kuh namens Rosa gezogen wurde. Die eine Kuhstärke bot zweifellos eine der umweltverträglichsten Fortbewegungsmöglichkeiten überhaupt, zog die Kuh doch nicht nur den Pflug und die Egge, sie gab auch ihr tägliches Quantum frischer Milch, und wenn ihre Zeit abgelaufen war, landete sie im Topf. Einzig die frischen Kuhfladen waren eine Art (Jung-)Last, die dem eilends bremsenden Fahrradfahrer zum Verhängnis werden konnten.

Apropos Fahrrad, es war nicht nur ein treuer Weggefährte meiner Jugend, sondern es hat auch ganz entscheidend zu meiner Ich-Werdung und Selbstfindung beigetragen. Am Wochenende hoch zu „Roß“ ins Pfadfinderlager in den Spessart oder später dann, zu den heimlichen Treffs mit meiner ersten Liebe in den nahegelegenen Stadtwald - das Fahrrad war notwendiges Hilfsmittel, mich aus den Fängen meiner Mutter zu befreien. Ohne die Mobilität, die es mir gewährte, wäre der Ablösungsprozeß vom Elternhaus wohl mühsamer vonstatten gegangen. Deshalb meine These: Das Fahrrad war ein wichtiges Instrument im Prozeß der Überwindung der Adoleszenz.

So wie das Fahrrad in meiner Pubertät, so war das Auto in der späteren Jugend ein Stück Lebensnotwendigkeit: Es diente dazu, der kleinstädtischen Enge von 10.000 Seelen zu entfliehen. Heiko, der Besitzer eines Goggomobils, das er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, weil dieser auf DKW umstieg, war deshalb auch der King. Waren wir doch alle, meine Freunde und ich, auf Gedeih und Verderb auf seine Gnade angewiesen. Er entschied darüber, wer ihn begleiten durfte, wenn er in die nächste Stadt fuhr oder gar nach Frankfurt, den Ort aller vermeintlichen Genüsse, alles Amüsements und aller Freuden.

Zwar vernichtet auch das Auto - wie die Bahn - Zeit und Raum mit großer Schnelligkeit, im Gegensatz aber zum Flugzeug läßt sich mit genügender Muße das Erlebnis des Reisens noch vergegenwärtigen. Allerdings ist seine Stärke nicht die Mobilität, wie das Substantiv Auto-„mobil“ suggeriert - natürlich ist es das auch -, das Spezifische ist vielmehr die Verfügungsmacht über den zu durchquerenden Raum. Das macht den Vorzug einer Autoreise gegenüber Bahn und Flugzeug aus. Kennen die Bahnen nur Start und Ziel „Mit den Räumen dazwischen, die sie voller Geringschätzung durchqueren und denen sie nur einen nutzlosen Anblick bieten, verbindet sie nichts“ (zitiert nach Schivelbuschs Geschichte der Eisenbahnreise, S.39) - so kann der Autofahrer durch beliebiges Anhalten die Landschaft noch erobern. Zwar ist er Herr über Zeit und Raum, getrieben aber von innerer Unrast frönt auch er einem weitverbreiteten Laster, dem des Rasens. Damit aber ist diese Freiheit bloße Illusion.

as Fliegen hingegen ist das unsinnlichste aller Fortbewegungsmöglichkeiten, erlebt man die Ortsveränderung doch nicht wirklich, sie geschieht mit einem. Zeit und Raum, die Welt, sie ist mit dem Flieger, wie es neudeutsch heißt, zum jederzeit verfügbaren Jetzt und Hier geschrumpft. Schaut man während des Fluges nicht aus dem Fenster und plaudert angeregt mit dem Nachbarn, dann hat man das Gefühl der Ortsveränderung vollends gebannt. Auch der Prozeß der Anpassung an ein fremdes Land, der noch bei Bahn und Auto wegen der relativ geringen Geschwindigkeiten peu a peu vonstatten geht, entfällt beim Flug. An seine Stelle tritt der Kulturschock, der den Reisenden spätestens beim Verlassen des Flughafens übermannt, wenn das neue Klima, ein undefinierbares Sprachgewirr und die fremdländische Kultur auf ihn einstürzen.

Ich ziehe deshalb für kürzere Strecken die Bahn dem Fliegen vor, eröffnet sich bei einer Reise von Berlin nach Frankfurt beispielsweise doch eine ganz andere Erfahrungsdimension: Ich meine die Verfügung über acht Stunden jener Zeit, deren Mangel ich im Alltag oft beklage. Acht wonnige, sinnlose, zähflüssige Stunden inmitten eines Meeres von Hektik und Geschäftigkeit - was für eine Labsal! Während draußen die Telegrafenmasten nebst Landschaft vorbeifliegen, kann ich mich einer meiner Leidenschaften hingeben, dem Lesen.

Alle Trauer über den Tod des Flaneurs, der heute einzig im Sandwich-Mann noch eine letzte Inkarnation findet, alles Lamento übers Rasen und die betriebsame Hektik scheinen obsolet. Kommt doch die Zeit, in der die vergewaltigte Natur sich ihr Recht nimmt. Ich meine nicht das Ozonloch oder das Sterben der Wälder, ich spreche vom Alter. Wenn die Beine schwer werden, die Lunge pfeift und der Krückstock zum notwendigen Hilfsmittel wird, den Häuserblock zu umlaufen, dann wird der Eilige wieder zum Entdecker des Naheliegenden, der Jogger wird zum Flaneur und der Raser von einst ist froh, wenn er die nächste Parkbank unbeschadet erreicht hat. Der Lauf der Natur ist gnadenlos.