Luftige Warteschleifen

■ Wie auf Erden, also auch im Himmel: Die Verkehrsdichte im Luftraum ist bereits so stark, daß jede Kapazitätserweiterung bedenkliche Auswirkungen haben würde - und dennoch fluchen auch öko-bewußte Passagiere über allzu lange Wartezeiten.

Von

REINHARD MOHR

ie kommen von Bali und aus Baltimore, von den Kanarischen Inseln und aus der Karibik, aus New York und Düsseldorf doch am Ende der Reise müssen sie zwischen Fulda und Gießen kreisen. Unplanmäßige Kurven über der Wetterau haben schon manchen Passagieren Angstschweiß auf die Stirn getrieben; abgebrühtere Fluggäste überschlagen den zusätzlichen Treibstoffverbrauch, die Abgasmengen, Lärm und Zeitverlust, den die unfreiwilligen Ehrenrunden über den Wolken verursachen. Und der Pilot bittet um Verständnis, daß sich die Landeerlaubnis für seinen Jet um eine halbe Stunde hinauszögert.

Die Warteschleifen über dem - nach London - zweitgrößten Passagierflughafen Europas gehören längst zum Alltag im Luftverkehr. Doch sie sind nur ein Teil des Problems, das die Experten „luftraumbedingte Verzögerungen“ nennen, strukturelle Beeinträchtigungen der Verkehrskapazität. Dabei ist der „Luftraum“ nicht einfach der endlos blaue oder unendlich graue Himmel, sondern ein genau begrenztes System von „Luftstraßen“, die international festgelegt sind. Die aber sind nur so gut und effektiv wie die technologische Infrastruktur am Boden, die weltweit den Luftverkehr regelt. Und damit hapert es.

Nur 64 Prozent aller Starts und Landungen auf dem Frankfurter Flughafen sind in der Wintersaison 1989/90 pünktlich gewesen (Abweichungen von weniger als 15 Minuten vom Zeitplan). Ein Jahr zuvor lag die Zahl noch bei 70 Prozent. Entsprechend hat die Zahl der Verspätungen zugenommen, die von zwanzig Minuten bis zu zwei und mehr Stunden reichen. Schon früh um acht Uhr an einem ganz normalen Wochentag im Mai ist das 1972 in Betrieb genommene und damals gigantomanisch wirkende moderne Fluggastterminal voller Menschen, und die Rubrik „Delay“ annonciert neunzig Minuten Verspätung der Flüge nach Berlin und Wien, eine halbe Stunde für London, eine dreiviertel Stunde für Dallas.

Wenn an Spitzentagen im Sommer nahezu 100.000 Passagiere in Frankfurt ankommen und abfliegen, ist die vorläufige Kapazitätsgrenze des Großflughafens Frankfurt erreicht. „Der Markt rollt auf uns zu“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Frankfurt/Main Flughafen AG (FAG), Horstmar Stauber. Aber der Markt wird auch gemacht. Die FAG gehört zu den rasant expandierenden Großunternehmen, deren Wachstumsstrategien stets noch von der Wirklichkeit übertroffen werden. Die dem Bund, dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt gehörende Aktiengesellschaft (1,5 Milliarden DM Jahresumsatz) ist das Paradepferd der dynamischen Wirtschaftsentwicklung in der Rhein-Main-Region und der ganze Stolz Frankfurter Metropolenherrlichkeit.

m edlen Wettstreit um gesamtdeutsche Hauptstadtwürden preist selbst der Chefredakteur des 'Pflasterstrand‘, einst Mitkämpfer gegen die waldfressende „Startbahn West“, die „Merkantilität“ Frankfurts am Beispiel des Flughafens, der „so groß ist wie die Innenstadt“. Auch das Lob der „transnational orientierten Knotenpunkt-Stadt“ bezieht seine Substanz vor allem aus der Tatsache, daß 1989 etwa 27 Millionen Menschen aus aller Welt die „Gates“ des Frankfurter Airports durchschritten haben, Tendenz steigend. Beim erbittert geführten Kampf um den Bau der „Startbahn West“ zu Beginn der achtziger Jahre erhöhten die Befürworter das ökonomische Argument von Wachstum und Arbeitsplätzen zum metaphysischen Bekenntnis, das die Existenz Frankfurts und seiner Region mit dem Ausbau des Flughafens zur „internationalen Drehscheibe“ fast schicksalhaft verknüpfte.

Inzwischen setzt auch der rot-grüne Magistrat auf die expansive Dynamik des Flughafens, der jenseits aller Zweifel und Kritik am ungebremsten Wirtschaftswachstum das sonst häufig vermißte Flair des Kosmopolitismus verbreitet, den neunzig internationale Linienflug- und etwa 200 Charterfluggesellschaften mit 330.000 Starts und Landungen pro Jahr zu produzieren scheinen.

aß Quantität irgendwann in Qualität umschlägt, erfahren seit einigen Jahren auch die 650 Mitarbeiter der Frankfurter Flugsicherung, darunter 300 Fluglotsen. Sie müssen stündlich bis zu 70 Starts und Landungen auf den drei existierenden Bahnen abwickeln. Und immer neue Fluggesellschaften klopfen an die Tür des zentralen Flugplankoordinators in Frankfurt, Claus Ulrich, um günstige „Slots“ - Start- und Landezeiten für ihre Flüge zu erhalten. Da wird dann schon mal im verantwortlichen Bundesverkehrsministeroum antichambriert, um den Druck auf eine positive Entscheidung zu verstärken. Während die „große Linie“ der Slot-Zuteilungen und der Verkehrskapazitäten in Bonn bestimmt wird, legt Flugplankoordinator Ulrich im Detail fest, wer wo wann und wie oft starten und landen darf. Bis zu elf Monate im voraus muß geplant und international abgestimmt werden, bevor alle Slots in dem dichtgedrängten Flugplan untergebracht sind: eine Sisyphos-Arbeit mit tausend Variablen, die ohne Computer überhaupt nicht zu leisten wäre.

Nachdem im Jahr 1987 der Fluggastverkehr um fast vierzehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen war, befürchtete die FAG für 1988 „das große Chaos“, wie Claus Ulrich sich erinnert. Daß es nicht dazu kam, lag nicht nur an einer geringeren Zuwachsrate in den beiden folgenden Jahren, sondern auch an der Verbesserung der technischen Organisation der Flugsicherung, die zu einer Erhöhung der „Kontrollkapazitäten“ führte. Gegenwärtig werden neue Computersysteme erprobt.

Doch über die Start- und Landekapazitäten entscheidet nicht nur die Flugsicherung vor Ort. Noch immer dient das Telefon zur Kommunikation zwischen den nationalen Flugsicherungsbehörden, die zudem noch über unterschiedliche technische Strukturen verfügen. Erst wenn die auf der europäischen Zivilluftfahrtkonferenz im April 1990 beschlossene „Harmonisierung der Flugsicherungssysteme“ bis 1998 realisiert sein sollte, könnte die Kontrollkapazität des Frankfurter Flughafens auf mindestens 72 Starts und Landungen in der Stunde steigen. Je reibungsloser und sicherer die Einfädelung der zur Landung ansetzenden Flugzeuge, desto geringer der notwendige Sicherheitsabstand, desto schneller die Folge von Starts und Landungen. Je besser die On-line-Kommunikation der europäischen Flugsicherungssysteme, desto seltener der Zwang für einen Piloten in Frankfurt, auf die Starterlaubnis für seinen Flug nach Kreta zu warten, weil die Fluglotsen dort noch mit veralteter Technik arbeiten müssen.

ennoch ist zweifelhaft, ob das Ende der Warteschleifen und Abflugverspätungen gekommen sein wird, wenn nur ein optimaler Datenverbund und modernste Computertechnik souveräne Herren des Luftraums geworden sind.

Neben dem chronischen Mangel an qualifizierten Fachleuten der Flugsicherung und der jeder Großorganisation eigenen Entropie gibt es absolute Kapazitätsgrenzen. Auch bei optimaler Technik, bestem Wetter und weltmeisterlichen Fluglotsen können auf drei Start- und Landebahnen nicht 100 Flieger pro Stunde die Piste drücken. Da eine vierte Bahn in Frankfurt ein politisches Tabu erster Ordnung ist - die Wunden der Startbahn West sind bis heute nicht verheilt mutet der unbeirrte Wachstumsglaube der Flughafen AG wie ein archaischer Parforceritt im weltweiten Treibhausklima an.

37 Millionen Passagiere im Jahr 2000, mehr als 43 Millionen im Jahr 2005 erwarten Frankfurts Flughafenplaner und richten sich schon heute darauf ein. Für weit über sieben Milliarden Mark wird bis 1994 eine neues Abfertigungsterminal aus dem Boden gestampft. Mit seiner Hilfe sollen dann zusätzlich zehn Millionen Fluggäste im Jahr durch das Zentrum des internationalen Luftverkehrs geschleust werden. Der Konkurrenzkampf mit London, Paris und Amsterdam ist hart, und das dynamische Image des Frankfurter Flughafens kennt keine Schmerzgrenze.

Der Markt rollt und rollt. Wer nicht mithält, fällt zurück. Und so verweist der Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit lieber auf eine aktuelle EG-Studie, in der die Verzehnfachung des gegenwärtigen Luftverkehrs in Europa für „technisch machbar“ erklärt wird, statt über die Grenzen des Wachstums im Flugverkehr zu diskutieren, die sich etwa aus ökologischen Gründen ergeben.

Wenn in der Urlaubssaison 1990 wieder alle Rekorde gebrochen werden sollten und sich der Flughafen Frankfurt stundenweise in ein touristisches Heerlager verwandeln wird, werden auch die Passagiere, die nach Bali und Baltimore, Fuerteventura und Jamaika, Goa und Gomera fliegen, dankbar für jede Kapazitätserweiterung der „führenden Luftverkehrsdrehscheibe Europas“ sein. Honni soit qui mal y pense.