AUF UND DAVON

 ■  Too much monkey business

Berichte zur Lage der Zukunft“, wie sie Peter Sloterdijk von 32 Autorinnen und Autoren erbeten und herausgegeben hat, scheinen sich zu erübrigen angesichts des Dramas, dessen wir gleich auf Seite 35 des ersten Bands (Vor der Jahrtausendwende, Suhrkamp-Verlag) in einer kurzen Exponentialrechnung gewahr werden: „Wenn wir uns weiterhin mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit vermehren sollten, können wir für die Zukunft folgende Tabelle aufstellen: 6 Milliarden im Jahre 2000, 24 Milliarden im Jahre 2070, 192 Milliarden im Jahre 2175, 450 000 Milliarden im Jahr 2575. Kurz nach dem Jahr 2600 berühren sich alle Menschen, und da hören meine Berechnungen notgedrungen auf. 'Man wird alle ernähren können‘, versichert mir ein Ernährungswissenschaftler, 'aber sie werden im Stehen essen müssen.'“

Die Perspektive des Gedränges läßt all die schleichenden Katastrophen der globalen Krise zu Detailproblemen schrumpfen, zu Belanglosigkeiten, solange nicht die alles entscheidende Frage beantwortet ist: Hat die Evolution drei Millionen Jahre geschuftet, um ein heißlaufendes Kopiergerät hervorzubringen? Wenn nein, warum waren dann sämtliche (nicht nur die auf die Bevölkerungszahl gerichteten) Versuche von Wachstumsbeschränkung vergeblich, ob sie nun von oben, via Wissenschaft und Intelligenz, kamen, wie in den sechziger Jahren vom „Club of Rome“, oder als Graswurzel von unten, wie durch den leistungsverweigernden ökologischen Hedonismus der Hippies. Wenn aber ja, wenn der offenbar mit echtem Endlospapier ausgestattete Planet demnächst vor Kopien überquillt (und zwar - wir kennen die Originale! durchaus zweifelhaften), was soll das Ganze dann noch? Wozu Überleben, wenn der Ü-Pol in einem nur noch insektoid, japanisch hoch Drei, organisierbaren Wimmel-Staat liegt? Was sollen territoriale Sicherheit und nationale Fragen, wenn sich eine Menschenflut bis in den letzten Winkel der Erde ergießt - die heute als Ereignis in „historischer Dimension“ angesehene Vereinigung der Deutschen entspräche im Jahr 2025 dem Niveau einer Städtepartnerschaft: Mexico City und Shanghai haben dann jeweils 36 Millionen Einwohner. Wozu technologischer Fortschritt, wenn uns nach Essen im Stehrestaurant ein klimatisierter Appartment-Sarg als Schlafplatz erwartet? Wozu Multi-Kultur, wenn die totale Uniformität einer gemischten Mega-Masse droht?

In dem Bericht, dem obige Exponentialrechnung entnommen ist, macht Thomas H. Macho auf die Ideologien zur Beschränkung der Menschenflut - Selektionsprogramme, Euthansieforderungen, Elitezüchtung - und ihre Konsequenzen aufmerksam: „Unsere Ängste vor zu vielen Menschen sind durch die Gewalt- und Schreckenserfahrung des 20. Jahrhunderts nicht besänftigt worden; allerhöchstens haben wir gelernt, gegen politische Vorschläge zur Bremsung der Gattungslawine mißtrauisch zu sein...“ Ein Mißtrauen, das zweifellos gesund und angebracht ist, uns aber auch in tiefe Verzweiflung stürzt: wenn die Menschenlawine nur um den Preis brutaler Unmenschlichkeit aufzuhalten ist, bleibt nichts anderes als die Vision einer endlos ausspuckenden Kopiermaschine. Eine Evolution, deren Prinzip Hoffnung auf den No Future-Graffito „Life is a Xerox, you are only a copy“ reduziert ist. Trübe Aussichten also, deshalb neige ich dazu, mich dem einzigen Theoretiker anzuschließen, den diese Entwicklung mit äußerstem Optimismus erfüllt: Für Timothy Leary ist es ausgemachte Sache, daß das nächste Ziel der Evolution das Verlassen des Planeten ist, die Auswanderung ins All. Nur auf diesem Hintergrund macht die technologische Entwicklung dieses Jahrhunderts irgendeinen Sinn - Zentralisierung der Wirtschaft und Fließbandautomatismus (sowie die scheinbar irrationalen, zerstörerischen Produkte der Weltkriege: Radios, Fahrzeuge, Flugkörper) dienen nur einem kollektiven Ziel: genügend Geschwindigkeit zu mobilisieren, um die Schwerkraft der Erde zu überwinden. Die Auswanderung ins All, meint Leary in seinem Buch Neurologik, ist unsere „einzige Chance, individuelle Freiheit in Raum, Zeit und kleinen Gruppensozialstrukturen zu erleben, die unserem Nervensystem offensichtlich am besten entsprechen“. So hätte also unser monkey business hienieden doch einen in den Tiefen der DNS eingeschriebenen Sinn. Wenn nicht mehr uns, dann unseren Kindern, die einzig senkrechte Möglichkeit zu eröffnen: auf und davon.

Mathias Bröckers