Die Rückkehr der Eisernen Reisschale

■ Als stellvertretender Kulturminister trat Ying Ruocheng für die kulturelle Öffnung Chinas ein / Diese Woche wurde er von den Altmaoisten geschaßt

Vor dem Pekinger Massaker hatte Ying Ruocheng noch gut Lachen. Gefragt, wie lange er schon Vize-Kulturminister der Volksrepublik China sei, antwortete er: „Offiziell seit Juli 1986, und ich habe vor, so kurz wie möglich im Amt zu bleiben.“ Es sind knapp vier Jahre geworden. Am Dienstag dieser Woche meldete die chinesische Nachrichtenagentur 'Xinhua‘ Yings Entlassung - kurz, bündig und natürlich ohne Begründung. Die wäre übrigens völlig überflüssig, denn Chinas Künstler verstehen die Botschaft auch so. Ying war eine Symbolfigur der zaghaften Öffnung der chinesischen Kultur, die nun schon wieder der Vergangenheit angehört. Und so verwundert an dieser Entlassung einzig der Zeitpunkt: jetzt erst, ein Jahr danach.

Ying Ruocheng selbst dürfte der letzte sein, der diese Entlassung bedauert. Er ist Schauspieler und hatte zu seiner neuen Aufgabe als Kulturbürokrat von Anfang an ein zwiespältiges Verhältnis. Bevor er im Juli 1986 vom Kulturminister Wang Meng als dessen Stellvertreter berufen wurde, hatte er 40 Jahre lang auf der Bühne gestanden. Wang Meng, der seine Sympathie für die demonstrierenden Studenten nicht verborgen hatte, mußte schon im September letzten Jahres gehen.

Durch seine Rolle in Bertoluccis Der letzte Kaiser, wo er als Gefängnisdirektor die politische Umerziehung Pu Yis leitete, wurde Ying auch dem westlichen Publikum bekannt. Er spielte auch die Hauptrolle in einer amerikanischen Kublai -Khan-Verfilmung. Vor seiner Berufung auf den Ministerposten leitete er das Pekinger Volkskunst-Theater, eine der besten Bühnen Chinas. In dieser Position versuchte er die Tür, die ausländischem Kapital seit Beginn der Dengschen Reformen weit offen stand, auch für die Kulturschaffenden einen Spalt breit zu öffnen. In einem Interview mit der 'Theater Heute‘ sagte er Anfang 1987: „Durch die neue Politik der Öffnung wird es sehr viel mehr kulturelle Kontakte mit der Welt außerhalb Chinas geben.“

So war es kein Zufall, daß Arthur Miller als erster westlicher Regisseur in China 1983 am Pekinger Volkskunst -Theater inszenierte. In Der Tod eines Handelsreisenden spielte Ying Ruocheng selbst den Willy Loman. Die Einsamkeit des Willy Loman, die er auf der Bühne spürbar werden ließ, hatte Ying in den Jahren seiner Verbannung während der Kulturrevolution selbst schmerzhaft erfahren. Mit dieser Rolle wie auch in seiner späteren Arbeit als stellvertretender Kulturminister kämpfte Ying für sein wichtigstes Anliegen: Die völlige Isolation, die jene Jahre des roten Terrors für China bedeuteten, sollte nie wiederkehren. „In der Öffnung besteht unsere einzige Chance zu überleben, voranzukommen und auch wieder zu einem Teil der Welt zu werden“, sagte Ying und sprach damit den Künstlern seines Landes aus der Seele.

Während der Verbannung hatte der Schauspieler heimlich sein Englisch perfektioniert. Doch zu keinem Zeitpunkt wollte Ying eine „Verwestlichung“ Chinas: „Wir versuchen jetzt, einen Mittelweg zu finden. Einerseits wollen wir unsere Tradition lebendig erhalten. Andererseits wollen wir eine sehr liberale Haltung gegenüber jeder Form moderner Kunst einnehmen.“ Als Vize-Kulturminister kämpfte er für die Befreiung der chinesischen Kunst aus den Fesseln der Ideologie. Wer die Verbreitung einer Meinung zum einzigen Zweck eines Kunstwerks machen wolle, der solle die Kunst besser lassen und Leitartikel schreiben, sagte Ying. Propaganda gehöre nicht auf die Bühne. Das waren mutige Worte in einem Land, dessen Sprechtheater-Tradition in den Agitprop-Bühnen der Roten Armee und einem aus der Sowjetunion übernommenen „revolutionären“ Realismus wurzelt.

Nun könnte man mit Recht vermuten, der sechzigjährige Ying Ruocheng sei ganz einfach in Pension gegangen. Dieser Annahme widerspricht jedoch die gegenwärtig zu beobachtende Auferstehung einer ganzen Reihe von achtzigjährigen Altmaoisten in Chinas Kulturbürokratie. Exemplarisch sei nur der aus dem Ruhestand zurückgekehrte Lin Mohan, 80, genannt, der neue Parteisekretär der Vereinigung für Literatur und Kunst (Wenlian). Lin Mohan erwarb sich erste Meriten während Maos Yanan-Säuberungen der vierziger Jahre, die neben anderen den Autor Wang Shiwei das Leben kosteten. Die Entlassung Ying Ruochengs ist bloß das jüngste Detail der heutigen Säuberungswelle seit der Demokratiebewegung vom vergangenen Jahr.

Als Ying sich für Strukturreformen in der aufgeblähten Kulturmaschinerie der Volksrepublik einsetzte, machte er sich nicht nur Freunde. Denn wo ideologische Fesseln fallen, geraten auch liebgewordene Sicherheiten sehr schnell ins Wanken. Die Forderung nach künstlerischer Qualität statt nach der rechten Gesinnung kollidierte mit dem Prinzip der „Eisernen Reisschale“, das auch Chinas Künstlern ihren Lebensunterhalt sicherte. „Noch haben wir die schlimmste Form der öffentlichen Subventionierung, weil jeder jeden Schund in der Gewißheit produzieren kann, dafür vom Staat ohnehin bezahlt zu werden“, heißt das in den Worten Ying Ruochengs. Und er fuhr fort: „Ich selbst habe als Laie begonnen, habe an der Universität Literatur studiert, Studententheater gemacht und bin vom Amateur schrittweise zum Theaterprofi geworden. Das sollte normal sein. Ist es aber nicht in China. Deshalb brauchen wir künftig mehr natürliche Fluktuation im künstlerischen Bereich.“ Die Fluktuation, die im Moment in China herrscht, meinte er gewiß nicht.

Henrik Bork