Ins Blaue gesprochen

■ Stephan von Huenes „Lexichaos“ in der Hamburger Kunsthalle

Die grüne Kuppel der Hamburger Kunsthalle, ein mächtiger Helm mitten in der Stadt, ist von innen blaß hellblau, ungeheuer hoch und leicht, jetzt, wo Stephan von Huene die Kuppel in Besitz genommen hat. Es ist sein Babel: ein großes Rund von vierundzwanzig weißen Tafeln, die seriphenlose Blockbuchstaben zeigen, die nach unten hin kleiner werden wie die Testtafeln beim Augenarzt. Das blaue Licht macht diese Tafeln ein bißchen unwirklich und nimmt die Farbe aus der Kleidung der Besucher. Die Kinder machen begeistert die Runde, weil die Tafeln, wenn man sie nah genug passiert, ein Fahrradklingeln von sich geben.

Aber da ist noch ein anderes Geräusch, ein seltsam anschwellendes Brabbeln mit unregelmäßigen Pausen. Es kommt von der Mitte des großen Runds aus drei hölzernen Türmen, deren Rümpfe über Kopfhöhe schrumpfen und sich dann auswachsen zu Arrangements von ansteigenden Stäben, die an Orgelpfeifen erinnern. Die Stimme eines Mannes spricht, dreifach, aber die Worte sind aufgelöst, sie bilden Schleifen, kreuzen und verbünden sich.

Das Blau, die Buchstaben, das Klingeln, die Stimme: „Lexichaos“ nennt von Huene die raumgreifende Arbeit. Vor drei Wochen hingen hier fünfzig Bilder von Klee. Jetzt machen die Leute erschreckt kehrt, die der Bildung wegen in die Kunsthalle gekommen sind.

Stephan von Huene ist als Sohn baltendeutscher Eltern in Los Angeles aufgewachsen. Nach einem Malerei- und Designstudium baute er 1964 seine ersten Klangskulpturen, 1975/76 war er auf Einladung des DAAD in Berlin; seit 1980 wohnt von Huene in Hamburg. Fragt man ihn nach seiner Arbeit, spricht er bald von dem, was er gelesen hat. Zu seinen Quellen gehören entlegene Schriften wie Die Maßnorm als kulturgeschichtliches Forschungsmittel von Erich M. von Hornbostel und andere Studien zu Ursprung, Aufführungspraxis und Notierung von Musik. Was von Huene zu interessieren scheint, ist die ritualisierte Sprache dort, wo sie Musik wird oder noch ist, vor allem in religiösen Praktiken. Wie wohl alle, die besessen sind von der Suche nach einem Anfang von Kultur oder Geschichte, birgt jene Vor -Zeit auch für von Huene die Utopie einer Ganzheit, die er aufwendig reinszeniert.

Für die Hamburger Installation hat von Huene (ausgerechnet) einen Pastor Jordahn die biblische Geschichte von der Verwirrung der Sprachen nach dem gescheiterten „Turmbau zu Babel“ in drei Sprachen lesen lassen: hebräisch, griechisch und lutherdeutsch. Jordahns Stimme ist es, die, auf CDs gespeichert, elektronisch raffiniert über die hölzernen Stäbe der Babelturmminiaturen ausgestoßen, in der Mitte der Kuppel so phantastisch brabbelt. Natürlich sind es Lichtschranken, die jene vierundzwanzig Buchstaben-Tafeln klingeln lassen: von Huene ist, aus Notwendigkeit, Bastler geworden.

Seine Installation führt krass vor, was passiert, wenn Sprache „wieder“ Musik wird: man versteht nicht mehr. Jedenfalls nicht das, was von Jordahn erzählt wird: Die biblische Geschichte jener, deren vermessen geplante Vereinigung mit Gott im Blau seines Himmel mittels multikultureller Verdammnis gestraft wurde. Tatsächlich sagt von Huene, er habe schon als Kind die Unterschiedlichkeit der Sprachen „als eine Wunde in der Welt empfunden“. In den Hamburger Babel-Türmen aber sind die drei Sprachen schon in der Stimme Jordahns vereint und außerdem in Tonhöhe und Dynamik elektronisch synchronisiert. Das Lied der Vereinigung im Ursprung muß notwendig melancholisch klingen; und es klingt nur für die Dauer eines Rituals. Draußen wird man sich dann - der Bahnhof ist gleich nebendran - wieder verlieren in den Winkeln und Nischen der Welt.

Ulf Erdmann Ziegler

Stephan von Huene, „Lexichaos“. Hamburger Kunsthalle, bis zum 8. Juli 1990, täglich 10-18Uhr, außer montags