Endrunde im Kulturkampf

■ Wohin treiben uns die elektronischen Medien? Eine Polemik gegen die weltweite Gleichschaltung der Wahrnehmung

Jürgen Lodemann

Unter dem demokratischen Fähnchen „Vielfalt“ enstanden auch in der BRD sogenannte private Sender. Die Bezeichnung „privat“ ist eine unserer beliebten Beschönigungen. Wie „Vielfalt“, wie „Kernkraft“. Bei Atomkraftwerken wie bei Privatsendern spricht man von „Betreibern“. In beiden Fällen gibt es in der Tat denselben Betreiber, nämlich den Markt. So sprach Herr Clement, Mitglied einer SPD-Regierung vor WDR -Redakteuren, von „Akzeptanz“ - als er mitteilte, daß auch für Nachrichten vor allem ein Meßwert gelte, der Unterhaltungwert. Meßbar ist er an den exakt ermittelbaren Zuschaltungen. Und diese Zuschaltungen, die Einschaltquoten, sind in der Tat der Marktwert, der über Wohl und Wehe einer Sende-Anstalt und eines Programms entscheidet. Inzwischen in den öffentlich-rechtlichen Programmen ebenso wie in den sogenannten privaten.

Unter dem wachsenden Kommerz-Konkurrenz wurden die öffentlich-rechtlichen Sender zum Verwechseln ähnlich. Einschaltzahlen werden auch dort gehandelt wie Umsatzzahlen, wo Kommerz und Politik eigentlich hatten draußen bleiben sollen.

Die sich vormals in einem Freiraum, jenseits von Markt und Geschäft, um Qualitäten zu kümmern gehabt hätten und um sonst gar nichts, sie paßten sich an. Zum Beispiel boten sie von sich aus dem Herrn Späth (kaum daß es bemerkt wurde) ein Kultur-Opfer an. Jener Landesvater, der sich gern als Kultur -Mäzen herzeigt und der an der Basis ein ausgemachter Kultur -Killer ist, der hatte den öffentlich-rechtlichen Anstalten in Baden-Württemberg eine Firma für Wirtschaftsprüfung ins Haus geschickt, MacKinsey. Ergebnis der Prüfung: Die Geprüften boten von sich aus an, das 2. Hörfunkprogramm, die beiden Kulturwellen von SWF und SDR, verstärkt zu kooperieren, die Kulturprogramme der Sender in Stuttgart und in Baden-Baden zusammenzulegen. Die Halbierung eines Forums für die Künste, einer Experimentier- und Spielwiese für das, was später nicht selten in den Regalen der Buchhändler stand - welcher Belletrist konnte je schon von seinen Romanen leben, wenn er sie nicht vorher als Hörspiel oder als Nacht -Studio ausprobiert und vorverkauft hätte. Fünfzig Prozent dieses Abenteuerterrains von Südfunk und Südwestfunk fehlen ab 1991. Unter der Drohung Fusion wurde Fusion angeboten, als Kulturopfer.

Auch unter der ständigen Drohung, die Landesparlamente würden die nächste Gebühren-Erhöhung nicht bewilligen. Groteskerweise hängen die öfffentlich-rechtlichen Anstalten, die als unabhängig gedacht waren, von den Länderparlamenten ab, von deren Recht, die Gebührenhöhe zu bewilligen. Als sei die Kasse nicht das Pressionsmittel. Die nach 1945 als staatsfern gewünschten Anstalten als geradezu klassische Fälle von Ausgeliefertsein an staatliche Macht.

Der feste Ladenpreis für die besondere Ware Buch schafft jenen Schonraum, der Lyrikbändchen möglich macht, Literatur, Sprache. In den staats- und kommerzfern konzipierten Funk und Fernsehanstalten hatten wir etwas Vergleichbares. Etwas Gemeinnütziges. In welcher Richtung werden sie nun abgetrieben?

Dazu ein Goethe-Zitat. Übers Fernsehen. Nein, ich gerate jetzt nicht ins Schleudern wie jener Feuilletonchef, der Goethe mit der Eisenbahn zur Buchmesse fahren ließ und gar zur Frankfurter, sondern respektiere nur, wie genau unser aller alter Heide und Menschenkenner die Wirkung von gewissen Veränderungen vorausgesehen hat - wenn er nämlich (in den „Zahmen Xenien“) folgendes anmerkt:

Dummes vors Auge gestellt

hat ein magisches Recht

weil es die Sinne gefangen hält,

bleibt der Geist ein Knecht.

Soweit Goethe übers Fernsehen. Jedenfalls über die Sorte, die nun erwünscht ist. Der Weimarer Minister teilt nicht einfach von Verdummung was mit, wie wir's versuchen, wenn wir gern „Verblödung“ sagen oder „Glotze“, sondern da wird das Verfahren genauer gesehen. „Weil es die Sinne gefangen hält“ - deswegen bringt es Knechtschaft. Dies vors Auge gestellte Dumme nimmt sich eines der höchsten Rechte heraus, das der Magie.

Nie, so scheint es, ist so viel gesprochen und nie so viel Rundfunk gehört worden wie heute. 1980 erst 23 Prozent der Kids, die sagten, sie informierten sich übers Radio. Heute schon fast zwei Drittel. Ergo? Woody Allens „Radio Days“ at it's best? Statistik bestätigt: Radio ist In, ist mehr angesagt als Fernsehen, schon das „Ansagen“ scheint es ja zu sagen: sagenhafte Zeiten für das Sagen. Es stimmt nicht, was Professor Joachim Ernst Behrend erklärt, daß wir nur noch den Augensinn betätigten, den „täuschbaren, ungenauen, oberflächlichen, aggressiven“ Sinn, mit dem wir vor allem fernsähen, statt den „edlen“ Sinn zu nutzen, den Hörsinn, jenen also, der vernimmt, wovon das Wort Vernunft kommt. Angesichts massenhafter neuer Hörfunkprogramme scheint es mir vernünftiger, zu fragen, was denn gehört wird, statt ob überhaupt.

Hinterm Schein der Vielhörerei erweist sich öffentliches Sprechen als gestutzt. Mehr als zehn Wörter darf ein Satz nicht enthalten, sagen die Untersuchungen derer, die es wissen müssen, die der Werbefachleute. Gestutzt ist zum einen die Periodenlänge. Zum anderen sind's die Beiträge ingsgesamt, und zwar auf die marktläufige Dreiminuten-Länge einer Single-Platte. Und das Material ist verflüssigt, aufs Kinderleichte, auf „Reinzieh„-Ware. Funk-Vokabular als Fast Food, als weltumspannendes MacDonalds-Gequatsche. Auch der edle Hörsinn, Herr Professor, auch das Vernehmen geriet weit neben die Vernunft. Eine Langzeit-Untersuchung der Harvard -Universität fand heraus: beim Essen mehr Hirntätigkeit als vor Lautsprecher und Bildschirm.

Auf den Erlanger Radiotagen berichtete Peter Leonhard Braun, beim SFB Chef des „Features“: „Wort wird im Radio inzwischen gefürchtet wie eine Krankheit. Wortanteil bei neuen Programmen gilt als Fieberkurve - je mehr Wort, desto näher dem Exitus.“ (Vielleicht liegt's an der Qualität der Wörter? d.S.) Die Einschaltquoten gingen dann garantiert nach unten.

In der Angst vor der aufkommenden Konkurrenz des Kommerzfunks schluckte man, sozusagen, als Antibiotikum, den Virus, der anzeigt, wer sich eingeschaltet hat und wieviele - und was da nicht Massen anspricht und beglückt, kommt aufs Abstellgleis der Geisterstunden, in museale Homelands für Kultur. Wo ursprünglich mal alles, auch Minderheit, berücksichtigt werden sollte, blieb über das Vermessen der Einschaltzahlen das, was Marktlobby hat.

Sie dürfen's jemandem glauben, der kürzlich eine Sendung zum letztenmal moderierte, die 17 Jahre lang im Spätestprogramm herumgeschoben wurde, eine Sprach- und Sprechsendung im Fernsehen. Als ich anfing, vor 25 Jahren, lief meine erste Sendung, ein 45-Minuten-Versuch über Meinungsforschung, im Ersten Programm, und dort gleich nach der Tagesschau, um 20.15 Uhr. Heute gibt's Essays höchstens um Mitternacht. Derweil treibt das Hören von Klassik, Jazz oder Vernunftdebatten auf Wellen ab, die niemand mehr kennt. Wollte man etwa einem Studenten raten, das Thema, über das er gerade sein Referat zu schreiben versuche, sei Gegenstand einer Hörsendung, so weiß er von solcher Art Sendung nichts und sucht irritiert die Welle. Fest eingetastet war in seinem Radio die Dröhn- oder Dudelwelle, das Nebenbeiprogramm.

In meinen „Radio Days“ war Rundfunk kein Ghetto-Programm, das ein für allemal fest eingetastet war und dann immer mit demselben Resultat rasch abgerufen werden konnte, es war noch keines, in dem ich meinen Kopf abschirmte wie mit Walkman gegen das, was befremdlich wirken könnte. Um 1950 oder 1960 gab es noch nicht jenes Schisma, das dafür sorgt, daß ich mich entweder absondere in einsamer Bildungshöhe für schwindende Minderheiten oder aber rund um die Uhr im Pop und Rock und Rock und Pop, so daß ich - in diesem wie in jenem Fall - nie mehr mit dem Anderen konfrontiert bin. Segregation, Deregulation heißen die Losungen, die für Isolationslager gesorgt haben und auf die sich die Entsorger, vorerst noch, allerhand einbilden.

In den Fünfzigern und Sechzigern gab's das Mischprogramm. Nach Heinz Erhard und dem Pferdehalfter an der Wand war immer damit zu rechnen, daß man an ein forderndes Stück geriet, nach dem LaLeLu-Gelulle plötzlich die Dissonanz. Während wir heute immer nur an der je eigenen Konsens-Milch nuckeln. Damals, zum Beispiel nach der Sportreportage, an den Sonntagen um 18 Uhr im NWDR, begann eine Reihe mit dem Titel „Das Meisterwerk“ - ich höre sie noch im Essener Rotweiß-Stadion brüllen, die Fans, wenn Helmut Rahn sein Tor geschossen hatte: „DAS MEISTERWERK!“

Den Titel, den hatten sie noch mitgekriegt. Information, Bildung und Unterhaltung folgten einander unberechenbar, so daß man ständig vor etwas stolperte, was man eigentlich nicht gesucht hatte, so daß man übers elektrische Medium noch sowas wie Erfahrungen machen konnte, mit welchem Resultat auch immer - mag ja sein, die Fans in der Nordkurve hörten immer nur noch den Titel der nachfolgenden Sendung, schalteten dann ab - mag aber auch sein, daß dieser oder jener, aus welchen Umständen immer, doch auch mal hängenblieb und womöglich bemerkte: dieser Dichter namens Heine, der ist ja gar nicht so, wie ich mir seit Schülertagen Dichter immer hab vorstellen müssen, der ist ja witzig, klingt gut, nämlich böse. Von dem will ich mehr wissen, also hör ich mal weiter

-ein Einziger, der sich über ein neues Gedicht von Jandl, Pastior, Biermann aufregt, wundert, freut, ärgert, also daraus irgendwie Konsequenzen zieht - wer wollte behaupten, dieser bloß eine sei unwichtig, dieser in Frau Noelles demoskopischem Raster-Muster von 2.000 zu Befragenden Unbemerkbare, der sei zu vernachlässigen, sei folgenlos.

Auf ihn kommt es im schlagartigen Programm nicht mehr an. Überraschtwerden oder gar Erschrecken kann nicht mehr passieren, wir stecken tief im je eigenen Solo-Sarg, begegnen immer nur Unseresgleichen, geklonten Verlängerungen der eigenen Welt als Sucht und Vorstellung. Single - Single über alles.

Ausschalten darf nicht sein, das hält Werbegelder fern. Die letzte Prognos-Studie unter dem Titel „Film-Fernsehen-Video bis zum Jahr 2000“ erwartet, daß im Gerangel um den bis zur Jahrhundertwende um 230 Prozent steigenden Umsatz am Programm-Markt jeder Zuschauer pro Jahr 60.000 Stunden Fernsehprogramm zur Verfügung haben werde. Also 60.000 Stunden für ein Jahr, das 8.700 Stunden hat. Arbeitslos, aber voll verkabelt?

In der sogenannten Christenunion sammeln sich neuerdings erste „Wehe„-Klagende, die von einer Verflachung der Programme was erkannt haben (Lothar Späth, der Kulturmäzen, ist bislang nicht darunter) und die nun doch nach den christlich-sozialen Werten rufen. Die Rock-Pop-Schnellschuß -Kanäle werden ihnen unheimlich. Berichten so gut wie gar nicht mehr über Tradition, Familie und Ordnungstugenden und Staatserhaltendes, Sittliches, Volksmäßiges, Kirchliches. „Die Geister, die sie riefen, kriegen sie nun nicht mehr los“, spottete ein Grüner über die Medienmacher der Christenunion.

Die Markthörigkeit der Medien ist inzwischen so perfekt, daß sich Programmberater zutrauen, ein erfolgreiches „Programmprofil“, wie sie das nennen, präzise zu berechnen, um so umrißscharf wie die Stromlinienform eines gängigen Autos - jeweils die Linie also, die optimal verkäuflich ist. Bekanntlich wurden sich ja nicht nur die verschiedenen Automodelle immer ähnlicher - auch die Funk- und Fernseh -Programme. Fahren Sie mal durchs Ruhrgebiet oder um München herum und drehen am Autoradioknopf - zu hören sind ein Dutzend ununterscheidbarer Programme. Kürzlich wurde für den Bayerischen Rundfunk eine neue Kulturchefin bestellt - die Dame, so wußte die 'Süddeutsche Zeitung‘, begeistert sich für, wie sie wörtlich mitteilte, „kleine flotte Dreiminuten -Formen“ im ersten wie im dritten Programm. Wie gesagt, hier formulierte die Kultur-Chefin.

Man kennt ja auch bei uns schon, auch im Literarischen, jene, die ihre Erfolge der Befriedigung des alten Brot- und Spiele-Triebs verdanken. Literaturbetriebsnudeln. Am 27. Mai brachte mein Heimsender die befriedigendste Literaturbetriebsnudel für mehr Geld ins Programm, als ich ein ganzes Jahr für Büchersendungen zur Verfügung hatte. Product placement - oder, da der in Rede Stehende sich neuerdings auf den entsprechenden Stühlen herzeigt, imago -Pflege.

Amerikanische Autoren haben die Auflage, so zu schreiben, daß Siebenjährige einem Songtext oder einem Dialog mühelos folgen können. Marktbeobachter haben erwiesen, daß es die quasi-kindlichen Programmteile sind, die höchste Einschaltquoten erzielen, ergo maximalen Werbeprofit. Also richten sich die Hits und Trends der Branche seit langem unüberhörbar nach dem Geschmack von Sechs- bis Vierzehnjährigen. Die Coca-Colonisation, sie ist nichts anderes als, wie man im Revier sagt, Verkinschung. Reduktion des Wortschatzes wie der Zusammenhänge auf den je einfachsten Nenner, auf den der Vorpubertät, der Lebenszeit vor Fertigbildung des Großhirns.

Eine Lösung aus dem Dilemma? Solange wird es sie nicht geben, als es auch und gerade Verleger sind, die auf den Rummelzug aufspringen. Eine Lösung wäre die Entfesselung des Gefangenen, die Öffnung der Ghettos, die hier für eine Mehrheit sorgen, die Narkotika ausgeliefert sind, und dort für eine Minderheit, die sich in elitärer Höhe ebenso isoliert, nur eben splendid, in Insider-Abgehobenheiten aus dem unendlichen Köchelverzeichnis der Glatzenfriseure. Ein Ende wäre nur absehbar in rigoroser Chaotisierung der Kanäle, in deren Soft-Brei wieder die Brocken gehörten, live -Freiheiten ebenso wie das kalkuliert Anstößige. Was freilich weder Staatsverwalter akzeptieren noch je der Multimedia-Kommerz.

Eine Entfesselung des Gefangenen gäbe es allein im Aufstand des Ghettos, in einer allgemeinen Verweigerung des Brei -Fressens. Oder wenigstens - wenn Hungerstreik oder Entzug schon nicht mehr gelingen - im Re-Etablieren jener Überraschungsprogramme, in deren Marmelade das Rasiermesser steckt. In denen ständig mit dem Schlimmsten zu rechnen ist, mit Schußwunden, mit dem, was Wut macht und Mut und wieder Konzentration, Argument, Analyse. Doch wenn nun schon EG -Richtlinien für einen europaweiten Kommerzfunk verabschiedet werden und die Kolonialisierung der DDR auch medienpolitisch erkennbar wird - statt die Chance zu nutzen, dort zu vermeiden, was nach 1945 hier vertan wurde, erscheint eine Umkehr in den alten Abenteuer- und Freiraum, jenseits von Markt und Macht, endgültig aussichtslos.

Kabel- und Satelliten-Techniken ermöglichen Internationalisierung, Monopolisierung. Das heißt, Gleichschaltung der Weltwahrnehmung. Standardisierung von Sizilien bis Island, von Madrid demnächst bis Moskau, hirnerweichender Global-Pudding nach dem so bewährten Rezept des Hamburgers. Von „geistigem Krebs“ spricht Umberto Eco, wenn er vom Okkulten spricht, von der dummen Sorte der Zeichen, der unnötigen Magie, die immer nur sich selbst erklärt, Schein den Schein, wuchernd. Im Fernsehen sind in Europa inzwischen 45 Satellitenprogramme zu empfangen, 18 in englisch - Medienmonopoly.

Die Ruhigstellung der Massen durch Abschirm- und Ablenkungsarbeit wird ja umso notwendiger, je unabwendbarer das Inferno des Planeten näherrückt. Umso mildtätiger wird die weltweite Augenwischerei, die am besten immer noch dann abschirmt, wenn sie uns reduziert, auf einen plärrenden Infantilismus, mit dem wir zu stillen sind, ruhigzustillen, zu erlösen vom Eigensinn.