Ein Gesamtkunstwerk in Abgaswolken

Bei den Motoballern wird das Spiel auf seinen Kern zurückgeführt: den Umgang mit dem Ding  ■  Von Ulrich Fuchs

Spätestens seit den Zeiten der Netzers und Overaths haben sich auch kritische Geister immer wieder um das Verständnis der Kunst des Fußballspielens gemüht. Eines der Hauptanliegen der intellektuellen Fußball-Anhänger galt dabei der Befreiung des Sports und seiner theoretischen Klassiker aus der Aura des Trivialen.

Als Musterbeispiel kann hier ein Doppelpaß zwischen Rolf Lindner und Sepp Herberger gelten. „Die methaphorische Umschreibung 'Der Ball ist rund'“, schreibt Lindner, „verweist nicht nur auf die bekannte existenzial -philosophische Fragestellung nach den Unwägbarkeiten und Wechselfällen der Conditio Humana, sondern zugleich und gegenstandsorientierter auf das anthropologische Faktum, daß hier ein Ding ausgerechnet mit jenen menschlichen Extremitäten bearbeitet werden soll, die dafür denkbar ungeeignet sind: den Füßen.“

Damit ist nicht nur „der Chef“ freigespielt, sondern Lindner kann jetzt auch selbst mächtig abziehen: „Heute wissen wir Modernen, daß gerade darin der Reiz des Spiels liegt: jenes erstaunliche Maß an Körperbeherrschung zu gewinnen, um, wenn auch nur für einen Augenblick, die Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers, die sich gerade in der Konfrontation mit dem banalen Ding offenbaren, zu transzendieren und so ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das letzte vielleicht.“

So gesehen trafen sich bei der Motoball-Europameisterschaft am die revolutionären Avantgardisten der Fußballkunst. Nicht mehr mühsam zu Fuß jagen die vier Feldspieler pro Mannschaft dem Ball hinterher, sondern auf eigens dafür hergerichteten 250-Kubik-Cross-Motorrädern. Bei Geschwindigkeiten von 70 Stundenkilometern und mehr wird die überdimensionierte, etwa ein Kilogramm schwere Lederkugel mit dem Fuß neben der Maschine geführt, gepaßt und nach Möglichkeit ins gegenerische Gehäuse bugsiert, das vom einzig nicht motorisierten Spieler gehütet wird.

Die natürlichen Bedingtheiten und antrainierten Vorzüge des menschlichen Körpers, die den Fußballsport hierzulande immer mehr zur Kraftmeierei haben verkommen lassen, sind außer Kraft gesetzt. Kein ungehobelter, baumlanger Abwehrhüne beherrscht den Luftraum, kein kleiner, antrittsschneller Gegenspieler läßt ihn am Boden alt aussehen, und kein bulliger Mittelstürmer besticht durch seinen unglaublichen Bums.

Das Motorrad macht alle gleich und führt so das Spiel auf seinen eigentlichen Kern zurück: die Fertigkeit des Akteurs im Umgang mit dem Ding. Trotzdem teilt der Motoball das Schicksal aller avantgardistischen Strömungen, auf breite öffentliche Anerkennung verzichten zu müssen. Was sicherlich damit zusammenhängt, daß der erste Eindruck des unbedarften Zuschauers den Blick auf das Wesen des Sports vorschnell verstellen kann.

Denn die acht, immerhin 80 Minuten lang über den Platz hin und herjagenden Maschinen erzeugen nicht nur einen ohrenbetäubenden Lärm, sie schwängern dazu auch noch die Luft mit Abgasgestank und hüllen die direkt am Spielfeld stehenden Beobachter ein ums andere Mal in dicke Staubwolken. Im Falle des Falles sollte man selbst darauf gefaßt sein, einem der im Übereifer über die Platzbegrenzung hinausschießenden Gladiatoren mit einem reaktionsschnellen Sprung zur Seite ausweichen zu müssen.

In 14 Vereinen wird derzeit in der BRD mit reinem Amateurstatus gemotoballert, allein neun davon kommen aus dem Großraum Karlsruhe, wo auch die Europameisterschaft ausgetragen wurde, an der Nationalteams der Niederlande, Frankreichs, der Sowjetunion und der BRD teilnahmen. Doch selbst in dieser absoluten Hochburg, so war zu hören, sind die Motoballer immer häufiger den Anfeindungen lärmgeplagter Anwohner und umweltbewußter Bürger ausgesetzt.

Nichtsdestotrotz gewann das bundesdeutsche Team vor etwa 3.000 begeisterten Zuschauern das Endspiel um den Europameisterschaftstitel gegen die Sowjetunion - im Elfmeterschießen, nachdem es nach der Verlängerung 3:3 gestanden hatte. Noch im Vorrundenspiel gab es eine 2:4 -Niederlage gegen die Sowjets.

Womit der Endspielsieg die Gültigkeit des Herbergschen Lehrsatzes „Der Ball ist rund“ auch für den Motoball nachdrücklich unter Beweis stellt.