Erschlichene Amnestie?

Die jüngsten Verhaftungen von Ex-RAFlern in der DDR  ■ K O M M E N T A R

Angesichts der Erfolge der deutschen Fahndungsunion fällt einem denn doch das schöne Wort von Willi Brandt ein: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Die letzten Kreuze auf den Fahndungsplakaten, die zur bundesdeutschen Kultur gehören, wie die Schallschutzmauern an den Autobahnen, dürfen nun unter Mithilfe der DDR-Bevölkerung gemacht werden. Was es aber bedeutet, das wird eher noch unklarer. Daß die Stasi den RAF- und 2.-Juni-Angehörigen eine zweite Vita verschafft hat, um eine Destabilisierung der Bundesrepublik zu erreichen, kann kaum überzeugen. Der vom DDR-Innenminister Diestel beschworene teuflische Pakt wäre nachgerade politischer Surrealismus. Die RAF hat ja keine Propaganda der Tat, sondern bestenfalls eine Propagande der aussichtslosen Tat betrieben. Im Übrigen hat sie für die Fettlebe des bundesdeutschen Fahndungsapparats gesorgt. Außerdem müßte nicht nur für den Politologen erklärt werden, wie eine ideologische Mesalliance zwischen Staatssozialisten und Vertretern des „individuellen Terrors“ möglich war. Nicht nur das spricht dagegen, sondern auch das immens hohe außenpolitische Risiko. Wenn die DDR die RAF als politisches Instrument gegen die Bundesrepublik hätte benutzen wollen, dann hätte sie auf abenteuerliche Weise schließlich ihre Anerkennungs- und Kreditbeschaffungspolitik gefährdet.

Halten wir uns zunächst an das Evidente: Was in der Bundesrepublik als Untergrund der 2., 3., 4. RAF-Generation inszeniert wurde, war für einige sogenannte „Top -TerroristInnen“ biederer realsozialistischer Alltag. Hausrat, Beruf, Kinder und „gesellschaftliche Tätigkeit“. Das frappierende der Fahndungserfolge ist die Botschaft der Trivialität. DDR-Normalität im Platten-Neubau. Nur die Verhaftung des Ehepaars Meyer in Leipzig könnte die Vermutung nähren, die Stasi habe eine unterstützende Rolle gespielt. Denn sie werden für die jüngsten Anschläge verantwortlich gemacht. Sollte das Ehepaar Meyer ebenfalls die DDR-Staatsbürgerschaft besitzen, dann wäre zumindestens der Verdacht berechtigt, daß die DDR auch Rückzugsgebiet und mithin Operationsgebiet für den bundesrepublikanischen Untergrund gewesen wäre.

Aber bei den Verhaftungen in Magdeburg, Cottbus, Frankfurt/Oder und Berlin-Marzahn spricht doch alles für das deutsch-demokratische Privatleben. Es ist auch plausibel und es gibt entsprechende Hinweise, daß es da irgendeine deutsch -deutsche Verständigung der Geheimdienste gab. Das wäre eine Art schleichender Amnestie, eine Art Akzeptanz der DDR als Aussteigerland. Mithin wäre in der DDR etwas realisiert worden, was in der Bundesrepublik politisch verhindert wurde: die gesellschaftliche Befriedung. Damit wäre auch der Umkehrschluß berechtigt: Durch die realsozialistische Aussteiger-Chance konnte die reale Notwendigkeit weggenommen werden, die hierzulande vielleicht eine politische Lösung erzwungen hätte. Alle bekamen was sie brauchten: Die Bundesrepublik die dauerhafte Bedrohung durch den Terrorismus, die RAF den Mythos des permanenten Kampfes gegen das System und die Stasi, ja, was bekam sie? Nicht Strafverfolgung steht also im Vordergrund sondern politische Aufklärung ist notwendig. Es wäre richtig und wünschenswert, wenn die Verhafteten die Gelegenheit nutzen würden, zu dieser Aufklärung rückhaltlos beizutragen. Schließlich ist es eine Frage, die nicht nur Historiker interessiert, wie es geschehen konnte, daß die opferungswütigen Kämpfer gegen den Staatsapparat ihren privaten Frieden ausgerechnet mit dem Segen eines Staatsapparat-Exzesses machen konnten. Ironiker der deutsch-deutschen Verhältnisse hoffen auf Details.

Klaus Hartung