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Spielerisch-ernste Rebellionen

■ „Berlin um die Ecke“: DDR-Verbots-Film von 1965. Buch: Wolfgang Kohlhaase

Nein, das hat ein Film wie dieser nicht verdient: Um 18 Uhr im gottverlassen leeren „Kleinen Haus“ zu laufen, vor mir, nur mir als Publikum. Nebenan läuft mit Erfolg der ebenfalls in den sechziger Jahren verbotene DDR-Film „Spur der Steine“ des Regisseurs Frank Beyer („Der Bruch“) - und warum guckt sich niemand „Berlin um die Ecke“ an? Diesen kantig -leichten, zärtlich-rauhen Film, zu dem Wolfgang Kohlhaase („Der Bruch“) das Drehbuch schrieb. Man kann den Film noch bis Mittwoch sehen, und wer sich schon an „Spur der Steine“ freute, sollte sich „Berlin um die Ecke“ keinesfalls entgehen lassen.

Der Film von 1965 (Regie: Gerhard Klein) wurde schon während der Fertigstellung verboten und hat deshalb Mängel, die ihn paradoxerweise besonders reizvoll machen: Nicht ein Ton Musik sülzt auf der Tonspur rum - das unterstreicht das Eckig-Spröde dieses Films, genauso wie die oft etwas rüden Schnitte: Hier fehlt ganz offensichtlich eine Szene, dort hat der Anschluß nicht geklappt: Der Film wirkt wie ein roher - naja, vielleicht nicht grade Diamant, aber doch wie ein liegengelassenes, vergessenes Kleinod, das plötzlich bei Licht seine Strahlkraft zeigt.

Strahlend vor allem der jugendliche Held, der Olaf heißt und als Jungbrigadist in einer Metallfabrik gegen nicht -funktionierende Planwirtschaft und verknöcherte Alte rebelliert. Nebenbei hartnäckig verliebt in die unnahbare Karin, die abends im Tanzclub singt, tagsüber in einer Großküche arbeitet und wortkarg an ihrer Scheidung laboriert. Olaf sieht wie ein Nußknacker aus, das Kinn springt scharf hervor aus einem länglichen Gesicht - aber die ruppige Zärtlichkeit, mit der Dieter Mann den jungen Lehrling spielt, den werbenden Liebhabenwoller mit seiner Lederjacke aus dem Westen - die haut einen - mich jedenfalls - schlichtweg um. Doch deshalb wurde der Film ja nicht verboten, sondern wegen der durchdacht-sorglosen Aufmüpfigkeit, mit der er von jugendlichen Motorradfahrern, von furztrockenen Vopos, von kleinen Rebellionen und von den Konflikten in der Metallfabrik erzählt: Olaf und sein Freund Horst - der später in den Westen geht - fälschen die Lohnzettel und schreiben sich mehr drauf, als sie verdienen, denn sie sind sauer über die Schlamperei im ständig unausgelasteten planwirtschaftlichen Betrieb. In ihrem Zorn beweisen sie, daß man das Plansoll übererfüllen kann, indem man

einfach mal „ordentlich schrubbt“. Empörung bei den alten FDGBlern, die den Sozialismus in Gefahr sehen und keinen Weg finden, die Jungen zu verstehen, „Exempel statuieren“ wollen, zur Polizei gehen, wenn an die Wand gemalt wird „Wir sind Sklaven“. Und doch: als Olaf einen der Alten zusammenschlägt, sagt der fassungslos: „Das letzte Mal bin ich auf dem Appellplatz geschlagen worden.“ Und da scheint das Dilemma auf, von dem Frank Beyer kürzlich in einem Vortrag gesprochen hat:

„Man hätte bei uns Antifaschisten bekämpfen müssen, um den Stalinismus zu bekämpfen.“ „Berlin um die Ecke“ erzählt vom spielerisch-ernsten Kampf gegen beginnende Verknöcherung. Bei uns tanzte zu dieser Zeit die Conny mit dem Peter. Filmischer Charme war also damals dem „anderen Deutschland“ vorbehalten - wie man an „Spur der Steine“ auch sehen kann. „Berlin um die Ecke“ sollte dahinter nicht versteckt sein.

Sybille Simon-Zülch

Schauburg, Kleines Haus, 18 Uhr.

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