Empfängnishilfe und Gedächtnisstütze

„Wir sind das Volk! - Die friedliche Revolution“ - Eine Platte mit Musik und Texten von Peter Gotthardt  ■ B E R L I N E R P L A T T E N T I P S

Blechern wird Marschmusik geblasen. Hundertfach das abgehackte „Hurra!“ von angetretenen Marschformationen. Jeder hört: Karl-Marx-Allee, Parade, das Rattern der Panzerketten, daß man sich die Ohren zuhalten möchte. Ein potentieller Kriegsbeginn. Plötzlich eine nuschelnde Falsettstimme, die sich überschlägt, lächerlich ist und so tausendfach bekannt, daß kein Haß aufkommen kann, nur Mitleid und resigniertes Abwenden: „Liebe Freunde und Genossen, meine Damen und Herren des Diplm'n Korps, liebe Gäste!“ Beifall für diese bedeutungsschwangeren Sätze. „Nehmen Sie die Gewißheit mit nach Hause, daß unsere Republik auch im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz ein bedeutender, zuverlässiger Friedensfaktor im Zentrum Europas sein wird. Unsere Freunde in aller Welt seien versichert, daß der Sozialismus auf deutschem Boden, in der Heimat von Marx und Engels, auf unerschütterlichen Grundlagen steht.“ Ein harter und dumpf nachhallender Synthesizer-Schlag macht dem ein Ende. Was manchen bei diesem Einstieg in die nun im Handel erhältliche und am vergangenen Samstag im Klub der Kulturschaffenden in der Ostberliner Otto-Nuschke-Straße vorgestellten Platte (CD oder MC) von Peter Gotthardt zu ungehemmter Heiterkeit hinreißen mag, ist eher beklemmend, traurig, macht ohnmächtige Wut auf die nicht greifbar Schuldigen für so viele verschenkte Jahre. Wir sind das Volk! - Die friedliche Revolution ist der Titel des Albums, das mit Parade-O-Tönen und dem Toast des kleinen, unbeholfenen Dachdeckers Erich Honecker vor dem Diplomatischen Korps am 7.Oktober letzten Jahres beginnt. So abgedroschen wie die Titelparole, die viele heute nur noch als sarkastischen Kommentar benutzen oder zum Anlaß nehmen, in böses Hohngelächter auszubrechen, ist das Epos des 1941 in Leipzig geborenen und nicht zuletzt durch einige Puhdys -Hits und zahlreiche Filmmusiken bekanntgewordenen Komponisten allerdings nicht.

Die Worte, die Honecker eingangs spricht, hat er wohl damals schon nicht mehr so recht geglaubt, oder er wurde blind gehalten von denen, die später für sich reklamierten, die Väter der Revolution zu sein. Es ist mehr als nur ein komischer Einfall, ein Gag, der die aus der bereits vor längerer Zeit vorgestellten „Demophonie“ hervorgegangene Sound-Lied-Collage einleitet.

Was nun die Firma Capriccio in die Rille gepreßt in die Läden bringt, geht weit über die vielfach lautstark gepriesenen Buchkassetten oder Video-Dokumentationen zum Thema DDR hinaus, wenngleich freilich die DDR -Staatsbürgerschaft (noch gibt es sie) dem Komponisten, Texter, Arrangeur und Produzenten Gotthardt aus allen Knopflöchern schaut. Wer weiß, ob ein „Wessi“ all diese Gefühle nachvollziehen kann, die in jener Verquickung von jüngster Historie und eingängigen Liedern stecken?! Die Desillusionierung, die inzwischen eingesetzt hat und die vormalige Epoche verdrängte, tut ein übriges. Die nunmehr letzte und endgültige Fassung des Projekts, das ursprünglich als Begleitmusik für eine Ausstellung über die Revolution gedacht war und in der Zwischenzeit nicht nur in der ganzen DDR, sondern auch in Europa herumgekommen ist, ist allen „Mutigen gewidmet, die die friedliche Revolution erstritten haben“. Am 12. Januar dieses Jahres lehnten die Plattenfirmen in der DDR die Produktion der Platte ab. Aus „Genregründen“, wie es hieß. Peter Gotthardt zählte seit Jahren zu den Unpersonen unter den Gegenwartskomponisten.

Immer wieder sind Zitate von der ersten großen Protestkundgebung am 4. November 89 auf dem Alexanderplatz eingeblendet. „Die Straße ist die Tribüne des Volkes, wo es von anderen Tribünen ausgeschlossen wird!“ Die ersten zaghaften Schritte, ein aufmüpfiger Augenschlag, der Beginn des großen Fragenstellens, noch kein hartes Fordern. Es wird nicht nur der Beginn des Aufweichens jener Diktatur dokumentiert, die Auslösung der Lawine, die viele später so gar nicht wollten, sondern alles in ein ästhetisches Gesamtkonzept eingeordnet. Es ist eine Collage, ein Bilderbogen, der in Zitaten und Liedern, Geräuschen und Musik eine Zeit zurückruft ins Gedächtnis, in der Weichen gestellt wurden. Und diejenigen, die sie stellten, hatten noch keine Ahnung, daß der Zug dennoch in eine andere Richtung rechterhand an ihnen vorbeibrausen würde.

Damals waren da noch die Vorstellungen, endlich in diesem Staate verwirklichen zu können, was dem Gemeinwesen fehlte, woran es krankte, was möglicherweise das Überleben gesichert hätte, wäre es früher erkannt worden: Offenheit, freie Entfaltung, Ehrlichkeit, Toleranz... „Das Neue Forum brennt darauf, das gähnende Loch aufzufüllen, das der Schwarze Kanal hinterlassen hat!“ Man hat ihm dazu keine Chance gegeben. Laßt die Mumien an die Luft, heißt ein Lied, das Peter Gotthardt bereits im Sommer 89 geschrieben hat und das keiner zu singen wagte. Es hämmert das Klavier, ausgelassene Kinderstimmen, eine Fortsetzung der Volksdemonstration in Musik, eingängig, einfach, populär. Wenngleich die Reime hin und wieder eher schlicht sind, fügt sich mit der Musik doch ein leichtgängiges Singspiel, eine Dokumentaroper zusammen, die nachdenklich macht und ein wenig traurig: Ja, das waren die Anfänge.

In eigentümlicher Metamorphose mischen sich die Sprechchöre: „Wir wollen raus!“ wird zu „Wir bleiben hier“. Gebrochene Musikfetzen untermalen die Zeugnisse aus der Zeit, da alles noch offen war. Baß und Synthesizer röhren hinein, malen eine dunkle Kulisse und finstere Spannung hinter die Anklage gegen die Ausschreitungen im Oktober. In Geheimsitzungen wird von einer „Generaloffensive des Imperialismus gegen den Sozialismus“ geredet. Die Stimme überschlägt sich. Noch heute zeichnet sich das Grauen ab bei dem Gedanken, wessen die verbohrten Grauköpfe hinter den verschlossenen Türen möglicherweise fähig gewesen wären. „Was sind das bloß für Menschen / die auch die eignen Kinder / fürchten und zerstör'n“, heißt es in einem Text, den der anerkannte Schauspieler (und Altkommunist mit vielen Ehrungen) Erwin Geschonneck vorträgt.

Gerade jetzt könne man sich keine Gewaltenteilung leisten, beraten die Genossen im kleinen Kreis. In den Gedächtnisprotokollen von Opfern der Ausschreitungen um den 8. Oktober kommt die „Arbeiterwaschmaschine“ (Wasserwerfer) zum Einsatz, ein Polizist erklärt, wie er in der Not zum Schlagstock greifen mußte... Resignierte, immer weiterlaufende, ins Endlose fliehende Melodieläufe bilden die Kulisse. Die Zitate der Politiker klingen nach Wochenschau, da ist auch der bekannte Schneid, sind die zackigen Wendungen. Dazwischen werden stockende Berichte der Opfer geblendet. In die Schilderung einer „Zugeführten“ redet Schabowski hinein - ein Volk richtet sich langsam auf, prüft die Stärke seiner Glieder und beginnt gewaltig, reinen Tisch zu machen. Es beginnt!

Eine der schwersten Wunden der DDR, die große Landflucht im vergangenen Herbst, wird zum Schunkel-Hit a la „Klaus und Klaus“: Da haben die Leute das Flitzen gekriegt. Und gerade das Lakonische wirkt beklemmend, schauderhaft, es schmerzt und erinnert an das Unwiederbringliche: die Heimat DDR. Manches klingt nach Brecht, und die Tuba brummt dazu, die Tränen in den Augen stammen von dem Scherz, der die Trauer vertreiben sollte.

„Eine Partei wie unsere hat keine anderen Interessen als das Volk“, verkündet Krenz in seiner Fernseh-Antrittsrede, das Zentralkomitee tritt zurück. Die Stimmen vom 4. November hallen weithin über den Alexanderplatz und sind längst Geschichte. Erste Warnungen werden laut, keine neuen Verkrustungen zu schaffen, denen man eines Tages hilflos ausgeliefert wäre. Und im Geiste sieht man eine undurchdringliche Mauer von „Diesteln“ wachsen um die Volkskammer.

„Mami, wo ist Onkel Erich?“ ist eine der stärksten Nummern auf der Scheibe. „Wir haben ihm doch zum Kampftag auf der Parade immer fröhlich zugejubelt beim Vorbeimarschieren... / Mami hat extra noch mein Pionierhalstuch frisch gebügelt...“ Das ist alles andere als eine spaßige Nummer. Die Kinderstimme der kleinen Friederike Baufeld steht wie ein Mahnmal für die ungezählten Köpfe, die sie zwischen Kindergarten und Universität zu sich herüberziehen konnten, die sie gefangen haben, verbildet und verbogen. Es pocht in den Wunden des Vergangenen, auch wenn es im Westen vielleicht nicht so nachvollziehbar ist. Tausendfach sind die Sätze gesprochen worden: „Erzähl nicht in der Schule, wovon wir zu Hause sprechen...“ - „Geh lieber hin zu eurer Versammlung, du brauchst doch die Beurteilung...“ - „Und wenn du die drei Jahre Armee hinter dir hast, dann ist dir wenigstens der Studienplatz sicher...“ Kinder, verkauft an die Feigheit ihrer Eltern, auf die Seite derer getrieben, die gerade Gedanken liebten. Es sind all die Jahre in unserem Rücken, in denen man sah, wie die Mitschüler willig zu Werkzeugen wurden, wie sie beim Wehrdienst nach und nach den Widerstand aufgaben und in den Kategorien der anderen dachten, wie naive und gutmütige Naturen zu sinnlosem Offiziersdienst geworben und ihres Lebens nicht froh wurden. Aber die Mutter hatte doch lieber die Fahne zum Nationalfeiertag herausgehängt - damit es keinen Ärger gibt.

Wir wissen gar nicht, was ihr wollt, meint eine sarkastische Zeile in dem Weihnachts-Parodiestück Fürchtet Euch, ihr habt uns doch zugejubelt. Angst vor der untergründig noch immer starken Partei kommt zur Sprache. Die historische Pressekonferenz am 9. November reißt Momper zu den Worten hin: „Es ist wirklich Wahnsinn.“ Tage, die längst untergegangen sind in dem Strudel des zu spät gezogenen Grenzstöpsels, zusammengefaßt in einer der wenigen lohnenswerten Aufarbeitungen zu diesem Thema jenseits von Effekthascherei und falschem Pathos östlicher Befreiungsexotik. „Alles wird besser - nichts wird gut“, singt Silly anderswo.

Als nächstes Projekt will Gotthardt die „Gedächtnisprotokolle“ der Verhafteten und Mißhandelten vom Oktober musikalisch angehen. Man kann nur hoffen, daß ihm dies so gut gelingt wie dieses Opus.

Ralf Schuler