Auferstehung der Stadt Mahagonny

■ Günter Krämer inszeniert die Brecht/Weill-Oper in Hamburg

Gegenwärtig offenbart sich die Historizität des Brecht -Theaters in besonderer Weise. Das rührt nicht nur von den Verschleißerscheinungen des einst als provokativ Empfundenen her, sondern zugleich aus dem so brüchig gewordenen innersten Gehalt der Stücke wie aus den Korrosionserscheinungen des politischen Kontextes, in dem Brecht, seine Kunst und seine „eigentlichen“ Erben nach 1947 eine neue Heimat gefunden haben. Mit diesem Umfeld kam die einst so hoch geschätzte Kunst in die Krise. Aber der Regisseur Günter Krämer hat die Imponderabilien dieser unserer Zeitläufe nicht gescheut und inszeniert an der Hamburger Staatsoper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, dieses ins Pensionsalter gekommenen Musterstücks des Musiktheaters der Zwanziger Jahre.

Zwischen Faszination und Verdrossenheit schwankte ich, als der Vorhang fiel. Bewunderung für Günter Krämer, der trotz der radikalen Eindeutigkeiten des Brecht-Textes eine solche Inszenierung zuwege gebracht hatte. Aber in diesen Zuspruch mischte sich das tiefste Unbehagen. Es war ein Unwohlsein angesichts der nicht gänzlich zu übertünchenden Grundlage des Stückes, dieser sich zum antikapitalistisch -prokommunistischen Programm formierenden Ästhetik des mittleren Brecht. Deren Maß und Ziel durfte sich ja mittlerweile zur Kenntlichkeit entstellen. Brecht konnte so herrlich grausam sein; weshalb uns eben jetzt so mancher Satz aus seiner Feder grauenhaft erscheint. Vielleicht sollte man auch dem Brecht etwas Ruhe gönnen. Wäre da nicht noch Kurt Weills elend gute Musik, diese höhnische Süße, diese Meisterschaft im Umgang mit dem „Abfall“ der Operette, diese Schärfung des musikalischen Bewußtseins.

Günter Krämer hat die für die Stadt Mahagonny gesetzten Bilder aus der gewohnten Sphäre entfernt. Da kommt kein zerbeulter LKW mit den Gaunern hereingefahren, sondern das Trio erscheint distinguiert als Trio: Fatty, der Prokurist mit der Violine, die Witwe Begbick mit dem Cello und Dreieinigkeitsmoses mit der Bratsche (im Kasten, sie entpuppt sich später ordnungsgemäß als MP). Die Drei fahren in die Leere - vor einen weiten weißen Rundhorizont. Keine Brecht-Stelltafeln. Der Kapellmeister Bruno Weil übernimmt die erste Ansage, ohne vom Dirigieren abzulassen. Überhaupt macht er seine Sache glänzend - vom ersten schäbigen Fugato, bis zum toten Mann, dem niemand helfen kann. O ja, guter Brecht, wir und niemand. Im Grunde auch der Regisseur Krämer nicht.

Eine Menge Einzelheiten, viele Szenen erschienen in ihrem Abrücken von den Brecht-Konventionen sehr überzeugend. Wie der Bildungsplunder zur Seite fliegt und das Unterhaltungsunternehmnen gegründet wird; wie die Männer erst einmal quasi zum Gottesdienst versammelt sind, durch ein Dutzend gleiche Türen in den Rundhorizont treten und sich allmählich an den Götzendienst gewöhnen; wie sie das willfährige und sedierte Publikum bleiben - durch die Micky -Maus-Masken, die sich jeder über die Nase zieht; wie sich der weiße Kronleuchter über das verhöhnte „Gebet einer Jungfrau“ herabsenkt (eine Lampe, die fürs Weiße Haus und den Kreml zusammen ausreichen würde): Das ist die ewige Kunst.

Aber die Ausstattung von Andreas Reinhardt, wirft ein Problem auf: alle Figuren werden in Reihe gebracht; die Menge erscheint nie als ein Gemenge von unterschiedlichen Typen, sondern stets uniform - durch die Fräcke und Zylinder, durch die Walt-Disney-Verpuppungen (auch durch Krämers Choreographie), beim Anstellen zum „Liebes„akt, beim kollektiven Boxsieg über den betrogenen Joe. Womöglich will diese Serialität auf den problematischen Geist der Kollektivität in Brechts Stücken hinweisen, auf die Falschheit. Aber dazu ist das Mittel der Bebilderung zu hübsch und artig: mit solcherart Serienbilder wird ja derzeit überall gearbeitet, wo das Theater einen gewissen geschmäcklerischen Anspruch hochhält. Zur Entlarvung eines obsolet gewordenen Kollektivgeistes taugen diese Bilder nicht.

Alle konkreten Stadtbilder bleiben aus; selbst das Tribunal findet nur vor einer rasch herabgelassenen weißen Wand statt, auf der sich ein langer blauer Pfeil und die Leuchtschrift „Exit“ zeigt. Auch alle Bilder vom Untergang bleiben erspart. Dafür wird die bei Brecht und Weill zwischen der Verurteilung des Jim und seiner Hinrichtung stehende Szene der Ratlosigkeit an den Schluß des Stückes gerückt, nach dem oratorischen Finale angehängt. Das ist eine leise, ganz und gar nicht zielgerichtete Schlußmusik: Where shall we go? Gewiß, auch die Inszenierung will nicht mehr als fragen, wohin wir gehen sollen, nach alledem. Daß er sich zu dieser Klarheit durchgerungen hat, dafür bewunderte ich dann Günter Krämer und diese Art, Mahagonny auferstehen zu machen. Aber daß es jetzt und mit Brecht hat sein müssen, diese Kunstübung, dafür bleibe ich ihm gram.

Frieder Reininghaus