Es ist komplettiert

■ Pirsch durch ein ehemaliges Reservat

Gabriele Goettle

Der erste Teil der vierteiligen Serie der Autorin durch den Norden der DDR erschien am 28. Mai, die zweite Folge über „Broilernotstand und Hennenmord“ - am 9.Juni. Die letzte Folge ist für Dienstag in einer Woche vorgesehen.

Im Norden der DDR sind die Dörfer entlang der deutsch -deutschen Grenze von besonderem Liebreiz. Vormals im Sperrgebiet oder dessen unmittelbarer Nähe gelegen, blieben sie von den Auswirkungen moderner Industrie und Technik weitgehend verschont. Freilich schlägt ihnen ihre Idylle nun zum Nachteil aus; die Gegend ist „strukturschwach“. Ein Teil der kleinen Betriebe, zum Beispiel der Schuh- und Textilfabrikation, hat wegen stornierter Aufträge und nachkriegsmäßiger Ausstattung ihre Produktion bereits eingestellt. Als erste wurden die Frauen von Arbeitslosigkeit betroffen. Was aus den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften werden wird, scheint sich schon abzuzeichnen. Magisch angezogen vom sich entfaltenden Kadavergeruch kreisen westliche Interessenten um die Objekte, fahren observierend im Schrittempo durch die Chausseen und taxieren die romantisch heruntergekommenen Fachwerkhöfe. Da werden auch die überall ausgehängten Schilder: „Zimmer frei, mit Frühstück“ keine Rettung bringen. Vorerst aber sitzen noch die aus Afrika zurückgekehrten Störche auf den Dächern, biegen die Köpfe zurück zum Klappern oder treten bedächtig auf den Nestrand, um geräuschlos davonzusegeln zu den lauenburgischen Seen.

Durch den größten dieser Seen, den Schaalsee, zieht sich die Grenze, teilt die Halbinsel Kampenwerder in den Ort Stintenburg und ein ehemaliges Niemandsland. Hier hat sich in der jahrzehntelangen relativen Ruhe des Grenzsperrgebietes ein kleiner Urwald erhalten und entfalten können. Dichtes Schilf umgibt den See, an den feuchten Ufern stehen große alte Bäume, einer davon, eine Eiche, ist so mächtig, daß sicherlich vier Personen die Arme ausstrecken müßten, um sie zu umfassen. Vermutlich ist sie mindestens 400 Jahre alt und aus der Perspektive eines Forstwissenschaftlers blankes Kapital. Aus dem Schilf ertönt jetzt, kurz vor Sonnenuntergang, zwischen dem virtuosen Quaken der Frösche ein monotoner Laut, so als würde jemand in eine fast leere Flasche blasen. Dort brüten Rohrdommeln, erfahren wir später.

Über all dem erhebt sich oben am Rand des Waldes ein massiver hoher Wachturm. Die Eingangstür ist zugeschweißt, Stromleitung abmontiert. Von hier aus ziehen sich rechts und links des Turmes die ehemaligen Fahrwege der Grenzorgane dahin. Neben den in zwei Streifen ausgelegten Betonplatten wurde eine ausgedehnte Bresche kahlgeschlagen zur besseren Überwachung. Im lehmigen Boden sind noch überall tiefe Spuren von Kettenfahrzeugen zu sehen, die hier kreuz und quer herumgefahren sind. Offensichtlich im Matsch des Winterwetters, damals im November.

Direkt am See liegt eine kleine Fischereigenossenschaft. Das Gebäude ähnelt einem Bahnwärterhäuschen, hat vergilbte Gardinen an den Fenstern und eine windgeschützte hölzerne Veranda vor dem Eingang. Hier stehen Kartons mit Eiern zum Angebot, daneben ein Pappschild: „12 St. 1,80“ und eine Blechbüchse für das Geld. Die Büchse ist leer. Hinter dem Haus hängen neben einem Stapel Kisten die Netze. Am Steg sind zwei graugestrichene Motorboote der Wasserschutzpolizei festgebunden. Weiter draußen, auf einem hölzernen Pfahl, der aus dem Wasser herausragt, sitzt reglos ein Fischreiher im Licht der untergehenden Sonne und starrt hinab zu den Zuchtfischen.

Richtung Stintenburg führt eine mit holprigem Kopfsteinpflaster belegte Chaussee, die unvermittelt zur tadellos asphaltierten Straße wird. Sie führt zu einem Objekt mit verschlossenem Tor, an der hohen Mauer entlang, die das große Seegrundstück umgibt. Die Auffahrt des Hintereinganges ist gerade groß genug, um unser Auto einzuparken. Wir beschließen, die Nacht hier zu verbringen. Im Schutz der Dunkelheit kriechen wir unter dem Tor hindurch. Umgeben von kurzgeschnittenem Rasen, Blumenbeeten und Hecken liegt ein schmuckloses Gebäude im Mondlicht, halb nach Kaserne, halb nach Lungensanatorium aussehend. Es ist unbeleuchtet. Am Wasser findet sich ein komfortabler hölzerner Badesteg, den wir - angesichts der Schilfufer ringsum - gerne nutzen. Es ist seltsam, hier nachts zu schwimmen in einem fremden Land, das dabei ist, sich aufzulösen; und rundum singen unverdrossen die Nachtigallen.

Heute, am Sonntag, sind Kommunalwahlen. Vor der Fischereigenossenschaft stehen zwei Männer und unterhalten sich lautstark in Dialekt, wechseln dann freundlich ins Hochdeutsche über und erklären, was es mit dem Gebäude hinter der Mauer auf sich hat:

1. Fischer: Das war von der Staatssicherheit gewesen, vor zwei Jahren sind dann auch noch die Grenztruppen hergekommen zur Ausbildung.

2. Fischer (zirka zehn Jahre älter, braungebrannter Mittfünfziger, Pfeife rauchend): Es ist ja noch nicht lange her, da hätten Sie hier nicht mit dem Auto stehen können, gar nicht reingekommen wären Sie! Nun steht alles leer, sie haben abgebaut und ausgeräumt und sind verschwunden. Was jetzt rein soll, wissen wir nich, vielleicht ein Kinderferienheim.

1. Fischer: Die ham ja kein Geld mehr bei der FDJ!

2. Fischer: Kann sein. Dann kann man ja nur hoffen, daß die nicht kommen vom Westen her...aber da werden wir schon nachhelfen, wenn die sich hier dicke machen wollen!

1. Fischer: Solche Dinger laufen hier bei uns nich! Auch mit denen, die jetzt hier ankommen und ihrs wieder haben wollen...da sind wir hart...

2. Fischer: Abgehauen sind die Leute, haben Haus und Hof im Stich gelassen und das freiwillig, dafür sind sie entschädigt worden. Jetzt kommen sie an und sagen: Wir sind vertrieben worden, man hat uns enteignet, ihr könnt ja euers auch wieder zurückverlangen.

1. Fischer: Wir ham nichts gekriegt und sind dageblieben, dafür wollen wir jetzt auch bestimmen, was damit wird!

2. Fischer: Eigentlich bin ich überzeugt davon, daß sie die Bodenreform nicht rückgängig machen...

1. Fischer: Das muß so bleiben, wie es ist. Denn es geht ja wohl nich an, daß jeder herkommen kann, wie er will, die ganzen Grafen und so...

2. Fischer: Na, ich sag Ihnen eins, die würden die Leute glatt erschlagen, wenn die hier ankämen von wegen Eigentum. Bei uns gibts sowas nich...und wenn von oben was anderes gesagt wird, dann wird das ein böses Ende nehmen, das steht fest!

1. Fischer: Ich glaub an gar nichts mehr. Das geht alles so schnell, daß man gar nich mehr mitdenken kann. Von heut auf morgen sind wir ein anderes Land auf Weisung von oben.

2. Fischer: Uns hier geht das noch gar nicht richtig in den Kopf. Ich will ja nun nich sagen, daß die Politik vorher richtig war und alles bestens, aber, daß wir nun alles über Bord kippen, kann ja auch nich richtig sein! Genau wie mit den Geschäften, da steht ja jetzt überall dran: Totaler Preissturz, Billigstpreise, um soundsoviel reduziert. Alles wird verkloppt...

1. Fischer: Das frag ich mich auch, is nun alles so billig, weil es jetzt nichts mehr wert ist, oder wars schon vorher nichts wert? Das hat jedenfalls ja gekostet das Zeug...und überhaupt...ich versteh das Ganze nich, das mit dem Volkseigentum. Jetzt hats geheißen, wir können da was dran erwerben, sollen Miteigentümer werden...aber ich denk, es hat mir schon gehört? Uns kann man immer für dumm verkaufen...

2. Fischer: Ich sag ja, das wird böse ausgehen. Schon die ganzen Betriebe hier, das kommt ja alles unter die Achse. Die Leute haben da überall ihre Arbeit reingesteckt, ihre paar Kröten verdient, und jetzt isses entweder wertlos oder wird an den Westen verkauft. Oben gehts ja schon los in der Schuhfabrik. Da wird alles aufgerollt, da wird stillgelegt. Obwohl, man muß ja sagen, da wurde vieles noch mit reiner Knochenarbeit gemacht. Waren eben einfach die Maschinen nich da. Aber sollen die Leute jetzt betteln gehn? Andere Arbeit gibt es hier nich... Also für mich ist das so wie wenn alles plötzlich rückwärts abläuft. LPG-Austritt, Bodenreform weg, Arbeitslosigkeit und die Schieber kommen...ich hab das ja erlebt, und da fragt man sich dann, wozu das, all die Jahre?

1. Fischer: Ich bin ja nun jünger, aber mir gehts genauso.

2. Fischer: Wir wissen hier alle nich, was werden soll nach dem 2.Juli. Da ist nu alles in einer Nacht übers Knie gebrochen worden, man redet uns ein, daß es so das Beste für uns ist. Aber selbst, wenn ich dann meine 800 oder auch 1.000 in West kriege, was hab ich davon, wenn die Preise raufgehen...die Steuern...? Was soll ich mir da noch kaufen?

1. Fischer: Früher ham wir uns auch nichts kaufen können.

2. Fischer: Na halt mal, Moment! Du hast doch kein schlechtes Leben gehabt, immer gut zu essen. Aber dann, kauf mal ein Kilo Fleisch für 20 Mark! Da hast du vorher sechs Mark dafür hingelegt und hattest auch nur deine 800. Von der großen Auswahl hast du gar nichts!

1. Fischer: Aber wenn ich jetzt schon beispielsweise für meinen Gefrierschrank nur noch 1.900 hinblättern muß...und der kam vorher 3.500?

2. Fischer: Den kaufst du ja nun nich alle Tage, so kannst du nicht rechnen...

(Ein beigefarbener Wartburg fährt vor, vollbesetzt mit Vater, Mutter, Kindern und Großeltern.)

2. Fischer: So früh schon? Wart ihr wählen, wie wars denn?

Fahrer: Was soll sein, wir haben unsere drei Kreuze gemacht...das wars.

1. Fischer: Früher hieß es ja immer: Wer zuerst kommt, entscheidet die Wahl...

Fahrer: (lachend) So früh könnte ich gar nicht aufstehen! (fährt weiter)

2. Fischer: Das ist doch traurig sowas. Viele gehn erst gar nich hin, die haben vorher CDU gewählt und schon die Schnauze voll. Ist ja mit allen das gleiche Spiel. Für uns hier siehts so und so schlecht aus. Wir sitzen da und wissen nicht, wos langgeht, im Moment dürfen wir nur abwarten.

1. Fischer: Reden kann man ja viel, wir haben schon überlegt, ob wir vielleicht die Genossenschaft gemeinsam..., bevor sie am Ende auch dicht macht, aber wir kennen ja die gesamten Möglichkeiten gar nicht.

2. Fischer: Erstmal wissen wir gar nichts über die Preise, nich mal beim Fisch, ob die nun an drüben angepaßt werden, weil die gesamten Staatsstützen ja nun wegfallen. Zum Beispiel jetzt die Maränen - oder Fellchen oder wie sie auch heißen - die gehn bei uns weg für 2,50 das Kilo, nich? Da kann man dann aber später nich von leben.

1. Fischer: Und die Aale für fünf bis acht Mark. Da zahlen wir am Ende ja zu!

2. Fischer: Wenn man selbständig wirtschaften müßte...alles muß dann umgestellt werden...bisher wurde uns ja jede Kleinigkeit vorgeschrieben...

1. Fischer: Wir sind hier fünf Mann, für die müßte es ja irgendwie reichen, da will jeder seine Garantie haben, weil man ja Schulden macht.

2. Fischer: Uns fehlt ja nich nur das Geld, uns fehlt auch Erfahrung, jeder kann uns übers Ohr hauen. Wir haben hier nach Plan gearbeitet, jedes Jahr unser Soll...um alles andere ham wir uns nicht kümmern müssen, und jetzt sollen wir plötzlich die ganze Organisation vom Betrieb überblicken...da weiß doch keiner Bescheid!

1. Fischer: Was kostet denn das nachher, an Pacht, Steuer, Unterhalt?

2. Fischer: Und ohne Sonnabend, Sonntag geht dann auch nichts mehr! Ich habs ja drüben gesehen. Am Sonntag ist der rausgefahren. Der veredelt seine Fische.

1. Fischer: Da gehts ja schon mit los, man braucht eine Räucherei. Andererseits, wir müssen ja auch am Sonntag her und die Fische füttern. Aber der, der verhungert ja nicht, wenn er zu Hause bleibt.

2. Fischer: Da können Sies sehen: keine Ahnung! Du, das ist die freie Marktwirtschaft. Wenn dus nicht machst, dann macht ein anderer das Geschäft. Da muß man immer schneller sein, nur so wirste reich!

1. Fischer: Reich! Mit Fisch kann man garantiert nich reich werden. Genauso mit den Eiern, dort stehn auch welche. Unser ehemaliger Genossenschaftsvorsitzender - er ist jetzt Rentner - hat sie hingestellt und wird sie nich los. Ich hab gehört, drüben kosten sie 25 Pfennig, hier nur 15. Die können Sie mal probieren, vergleichen Sie mal, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Neulich hab ich drüben mal Eier gegessen bei den Verwandten, pfui! Allein schon der Dotter, ekelhaft! Aber können wir deshalb reich werden, mit den vielen guten Eiern, die wir haben?

2. Fischer: Wenn du reich werden willst, mußt du alles im großen Maßstab machen, als Fabrik, mit 10.000 Hühnern, ja, und alles vollautomatisch, Futter, Wasser, Eiertransport direkt ins Kühlhaus...

1. Fischer: Wie die dann schmecken, weiß ich jetzt...ne, das hat doch alles keinen Zweck, das siehst du ja mit unsern Gewässern hier. Das konnten wir beobachten in den letzten Jahren, wie das Wasser immer schlechter wurde. Jetzt haben wir Algen. Und ich sag dir, woher das kommt, das ist vom Zuchtfischbereich! Vom Futter, das wir reinschaufeln, das wird ausgeschieden von den Fischen, wird mit Stickstoff angereichert, und dann wachsen die Algen, der Sauerstoff geht raus...

2. Fischer: Na also ganz so schlimm isses noch nicht! Unsere Seen sind ja tief, normalerweise hat man vom Ufer so fünf bis sechs Meter Grund, dann geht es ab in die Tiefe, 70 Meter sowas.

1. Fischer: Trotzdem ist das Wasser schlechter geworden durch den Zuchtfisch! Man hat uns das ja vorgeschrieben, dabei haben wir alles drin in Mengen, jetzt zum Beispiel grade die Schleien.

2. Fischer: Ach, hör auf. So viele werden wir gar nich los, wie wir fangen könnten. Da drüben an der Sandbank...alles voll! Die laichen da ab.

1. Fischer: Da sonnen sie sich den ganzen Tag und haben nichts zu tun!

2. Fischer: Na die strengen sich schon ganz schön an beim Laichen. Ich hab das mal erlebt, sitze drüben im Boot beim Angeln, aber da war gar nich dran zu denken! Hinter mir im Schilf ein Krach, ein Klatschen und Spritzen, die benehmen sich ja wie die Verrückten! Sie quetschen sich zwischen dem Schilf durch und pressen dabei den Laich aus dem Bauch und von der Seite kommen die Melker...so geht das wochenlang.

1. Fischer: Wir haben ja alles hier, darum beneidet man uns richtig, die Hasen und Rehe gehen hier nur so spazieren, Reiher haben wir...drüben sind Rohrdommeln, dort auch...und ganz hinten brütet ein Fischadlerpaar, die kennen uns schon...

2. Fischer: Eigentlich haben wir hier in Ruhe und Frieden gelebt. Unser Dorf besteht ja nur aus drei Höfen. Jahrzehntelang wars hier einsam und still, gut, manchmal haben die Grenztruppen geübt, aber sonst durfte kein Mensch rein.

1. Fischer: Auch unsere Verwandten - nur mit Voranmeldung.

2. Fischer: Unverhofft gabs da keinen Besuch. Zweimal im Jahr höchstens kam die Verwandtschaft mit Passierschein. Eigentlich war das ein Segen, man konnte nicht überrascht werden. Heute, da hupts draußen, und schon stehen sie mitten auf dem Hof.