„Tja, Demokratie haben wir hier noch nicht“

In Bukarest hat sich die Situation nach den traumatischen Ereignissen der letzten Tage nur scheinbar „normalisiert“ / Augenzeugenberichte verstärken Vermutung, die Räumung des Platzes könnte eine staatliche Provokation gewesen sein  ■  Aus Bukarest Erich Rathfelder

„Einen solchen Terror auf den Straßen habe ich nicht mehr erwartet.“ Calin Andelescu, ein Schriftstller und Dichter, vergleicht den Aufmarsch der Bergarbeiter am letzten Mittwoch in Bukarest mit dem Erdbeben vor zwei Wochen, das große Risse in den Wänden vieler Häuser hinterlassen hat. Für viele, sagt er, haben die jüngsten Ereignisse große Risse im Bewußtsein hinterlassen. Der längst begraben geglaubte Totalitarismus war wieder auferstanden.

Selbst der gerade in Bukarest angekommene taz-Reporter konnte am Freitag nachmittag noch etwas von dieser bedrückenden Atmosphäre mitbekommen. Auf dem Platz vor der Universität waren noch immer Hunderte Bergarbeiter aufmarschiert. Mit ihren Knüppeln versuchten sie die Passanten einzuschüchtern.

Als ein Mann auf einen Polizisten zuging, der auf dem Bürgersteig stand, und mit ihm einige Worte wechselte, löste sich plötzlich einer der Arbeiter aus der Gruppe, lief auf den Passanten zu, holte mit seinem Stock aus und schlug ihm mit voller Wucht ins Genick. Der Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Der Polizist regte sich nicht. Alle umstehenden Passanten schwiegen.

Seit Mittwoch, seitdem die zehntausend Bergarbeiter aus Siebenbürgen die Stadt Bukarest beherrschten, hat es Hunderte ähnlicher Zwischenfälle gegeben. „Tja, Demokratie haben wir noch nicht“, sagt der Polizist, den ich wegen des Vorfalls anspreche. Die Frage ist ihm sichtlich unangenehm. „Wir haben klare Anweisungen, nicht einzugreifen.“

Tatsächlich erhielten die Bergarbeiter einen semi -offiziellen Status. Sie durften sogar Passanten kontrollieren. Mit Vorliebe untersuchten sie Roma und junge Frauen. Unwürdige Beschimpfungen und Schläge, sexistische Anspielungen und Angriffe mußten Tausende über sich ergehen lassen. Und auch das Geistesleben allgemein sollte ausgetrocknet werden. Höhepunkt dafür war die Zerstörung der Uni-Bibliothek. Vor allem diese Primitivität ist es, die viele erschaudern läßt: „Der Weg nach Europa ist noch weit.“

Der Putsch der „Legionäre“

Schon kehren alte Verhaltensweisen wieder. Wieder senken die Menschen die Stimme, wenn man sie anspricht. Die politische Kultur der jetzigen Führung wurde durch Ion Iliescu in seinen Dankensreden an die Bergarbeiter am besten zum Ausdruck gebracht: „Durch die entschlossene Aktion der gesunden Kräfte gelang es, die degenerierten, deklassierten Kräfte im Zaum zu halten.“

Die Regierung sollte gestürzt werden, ist der Tenor der offiziellen Verlautbarungen. Als am Mittwoch morgen der Platz der Universität geräumt wurde, hätten im Anschluß daran Tausende organisierte Demonstranten einen Sturm auf das Innenministerium und das Fernsehen unternommen, um die Macht zu übernehmen.

In langen Sequenzen zeigt das Fernsehen immer wieder ausgebrannte Autos, die total demolierten Räume eines Trakts im Gebäude des Ministeriums. Die „eiserne Garde“, die faschistische Organisation der Vorkriegszeit, sei wiederauferstanden und bedrohe die Regierung. Mit der Aktion der Arbeiterklasse habe man nur den Faschismus bekämpft.

Den Ordnungskräften ist bisher allerdings nicht gelungen, die „Faschisten“ vor die Kameras zu bringen. Nicht einmal die fünf Toten werden noch erwähnt. Und erstaunlich ist, wie schnell von den gerade erhobenen Anklagen wieder abgerückt wird. Schon in den Abendnachrichten am Freitag wurde der Ton der Anschuldigungen gemildert. Sogar eine Darstellung der schwer beschuldigten Bauernpartei wurde vorgelesen, in der ihr Vorsitzender die Vorwürfe entschieden zurückweisen kann. Selbst das von den Bergarbeitern zerstörte Büro der Partei wird gezeigt. Der Führer der Liberalen, Campeanu, ruft dazu auf, zu demokratischen Verhältnissen zurückzukehren und die Repression gegen Einzelpersonen einzustellen. Er beklagt sich darüber, von den Bergarbeitern verfolgt und bedroht worden zu sein. Der bekannte Dichter Mircea Dinescu verliest eine Erklärung des Schriftstellerverbandes, in der in scharfer Form gegen die Übergriffe auf Intellektuelle protestiert wird. Die Staatsgewalt könne nicht einfach auf eine Gruppe von Arbeitern übertragen werden. Mit dem Aufruf zur „Rückkehr zur Normalität“ endet die Sendung.

Die Räumung

Der Platz vor der Universität ist wieder dem Verkehr übergeben worden. Dort, wo seit dem 24.April Tausende von Menschen ihre „kommunismusfreie Zone“ aufgebaut hatten. Empört weisen Menschen, die wochenlang auf dem Platz waren, den Vorwurf zurück, faschistische Legionäre hätten hier etwas zu sagen gehabt. Der überwältigenden Mehrheit der Demonstranten sei es um die Demokratie gegangen.

„Das Wahlergebnis ist für die meisten ein Schock“, erklärt Sergiu Zanca, ein Kunstmaler, der bis zur Räumung auf dem Platze war. Nach dem Sieg Iliescus hätte die Stimmung ihren Tiefpunkt erreicht. Vier der die Veranstaltung tragenden Organisationen hatten sich nach der Wahl zurückgezogen. Die bedeutende „Liga der Studenten“, die „Unabhängige Gruppe für Demokratie“, der „Verein 21.Dezember“ sowie die „Liga der Architekturstudenten“ beendeten die tägliche Demonstration und riefen ihre Anhänger auf, nur noch donnerstags einmal pro Woche zusammenzukommen.

Auf dem Platze blieben nur noch um die 20 Hungerstreikende und einige hundert Demonstranten. Zwei Organisationen machten weiter, die „Allianz des Volkes“ und die „Vereinigung 16. bis 21.Dezember“, beides Gruppen, die in besonders radikaler Weise gegen den „Neokommunismus“ der Front Position bezogen hatten. „Ich bin eine Woche vor der Räumung in den Hungerstreik eingestiegen, weil ich so jenen die Möglichkeit geben wollte, aufzuhören, die schon über dreißig Tage dabei waren. Bald fiel mir und Freunden aber auf, daß sich auch ehemalige Mitglieder der Geheimpolizei Securitate unter uns befanden.“ Als der Justizminister am letzten Montag zu einem „Dialog“ auf den Platz kam, seien es gerade diese Leute gewesen, die mit ihren Rufen das Gespräch verhinderten, erzählen andere Informanten (Namen der taz bekannt). Die Forderung, so Zanca, habe sich auf die Errichtung eines unabhängigen Fernsehsenders reduziert. „Wir wollten gegen die Manipulation der Menschen durch das Fernsehen protestieren.“ Als nach der Räumung, die eigentlich eine Einkesselung mit Lastwagen und gepanzerten Fahrzeugen war, gegen die Studenten gerichtete Schlägerbanden auftauchten, waren auch Leute in dieser Menge, die andererseits auf seiten der Demonstranten das Fernsehgebäude stürmen wollten. Ein anderer Zeuge will im Innenministerium, das dann später brannte, gesehen haben, wie sich sogenannte Demonstranten mit Pepsi-Cola und Mineralwasser erfrischten - in Rumänien für Normalsterbliche nur schwer erhältliche Waren. Könnte also die Räumung des Platzes und was sich anschloß, eine Prookation der Staatsmacht gewesen sein? Für viele der Beteiligten ist diese These immer wahrscheinlicher.