„Wie schlecht ist die EG?“

Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (Buko) tagt in Nürnberg und klagt  ■  Aus Nürnberg Dorothea Hahn

„Genauer weiß ich jetzt immer noch nicht, worum es bei der EG geht.“ Die junge Antiimperialistin ist 400 Kilometer weit gereist, um sich bei dem Bundeskongreß der entwicklungspolitischen Aktionsgruppen (Buko) in Nürnberg ein Bild über die Gefahren der westeuropäischen Integration zu machen. Doch nach dem Ende der viertägigen Debatten in Arbeitsgruppen und Plena steht ihr die Ratlosigkiet im Gesicht geschrieben. Daß die EG als „neuer Trick des Imperialismus“ abzulehnen ist, war ihr ohnehin schon klar auf dem Buko wollte sie Einzelheiten erfahren und vor allem über konkrete Aktionen reden.

Die Suche nach neuen Inhalten und Perspektiven für ihre Solidaritäts-Arbeit hat die meisten der rund 450 Buko -TeilnehmerInnen nach Nürnberg bewegt. Sie kommen aus kirchlichen Initiativen, aus Dritte-Welt-Gruppen und aus Zusammenschlüssen gegen die Apartheid und für die Sandinista. Sie alle spüren neuerdings einen scharfen Gegenwind bei ihrer Dritte-Welt-Arbeit. Jahrelang praktizierte Selbstverständlichkeiten einer aufgeklärten Öffentlichkeit sind im Bröckeln begriffen: Spendenkonten für hungernde afrikanische Kinder werden schlicht ignoriert und Vorträge über bewaffnete Befreiungsbewegungen, die noch vor Jahresfrist vor prallvollen Sälen stattgefunden hätten, müssen heute mangels Masse ausfallen. Stattdessen würden die Leute „wie verrückt“ für rumänische Waisen spenden, weiß die Mitarbeiterin einer Kinderhilfsorganisation zu berichten.

Unter dem Motto des diesjährigen Bundeskongresses „EG 92 und 'Dritte Welt‘ - Zukunft Europas auf wessen Kosten?“, der gestern beendet wurde, konnten all die zu Unrecht in den Hintergrund getretenen linken Lieblingsthemen wieder verknüpft werden. Schließlich hat die EG (bzw. einzelne ihrer Mitgliedsländer) tatsächlich noch Kolonien - ist also Kolonialmacht - verdient an der Verschuldung der Dritten Welt, trägt zur ökologischen Verwüstung bei, beherbergt Rassismen aller Art und ist ein Eldorado für Konzerne. Ein Feindbild also, dem die KongreßteilnehmerInnen in 19 Arbeitsgruppen zu Leibe rückten. Drei Fragestellungen sollten ihnen dabei helfen: Gesucht wurden die GewinnerInnen und VerliererInnen „der gegenwärtigen Umbrüche in der Weltwirtschaft“, die Rolle der BRD und „Gegenstrategien“.

„Strukturanpassungsmaßnahmen (SAP)“ - ein Overhead -Projektor wirft den Begriff in Leuchtschrift an die Wand, während der Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Bremen erklärt, daß die EG-Entwicklungspolitik nur eine „soziale Rhetorik“, aber keine bessere Praxis als die Weltbank hat. Auf den Tischen stapeln sich EG -Außenhandelsstatistiken und Informationen über die „passive Abkopplung“ der Dritten Welt. „Sollen wir die EG denn jetzt bei ihren humanen Ansprüchen packen oder gleich ihre Auflösung fordern“, rätselt jemand. In den Vortragspausen ist nur das Brummen des Overhead-Projektors und das Kratzen der Bleistifte, die beim Mitschreiben übers Papier huschen, zu vernehmen.

Ein paar Räume weiter diskutiert die größte Arbeitsgruppe des Kongresses lautstark über Kolonialismus und Neokolonialismus. 500 Jahre nach dem Beginn der militärischen Unterdrückung Lateinamerikas will die spanische Regierung im Oktober 1992 das „Treffen zweier Kulturen“ in großem Stil feiern, nur wenige Monate vor dem für den 1. Januar 1993 geplanten - Inkrafttreten des europäischen Binnenmarktes. Diese Verknüpfung von Ereignissen drängt sich für eine Kampagne nahezu auf. Und an dieser Stelle sprudeln die Ideen zu Aktionen: Ein „Schiff voller Indios und Kleinbauern“ soll erst nach Europa kommen und gegen das spanische Fest mobil machen, und anschließend mit europäischen Alternativgruppen an Bord zurück nach Lateinamerika fahren, um dort über den Binnenmarkt aufzuklären. Theaterfestivals, Landbesetzungen, internationale Treffen, ein Kulturwettbewerb und Aktionen gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Bonn (oder Berlin?) werden gegen „500 Jahre Kolonialismus“ geplant. TeilnehmerInnen, die auch über die Geschichte des europäischen Kolonialismus und den Zusammenhang mit der EG sprechen wollen, haben einen schweren Stand.

Wie in einer Selbsterfahrungsgruppe geht es beim Thema Euro -Rassismus zu: Eine Iranerin erzählt, daß sie nach fast zwei Jahrzehnten in der BRD aus Angst vor Reaktionen und Blicken immer noch ungern in die Straßenbahn einsteigt. Betroffen fragen sich die deutschen TeilnehmerInnen, was sie falsch machen und kommen schnell auf ihre Erziehung und den „Rassismus in uns“ zu sprechen. Dagegen müsse „irgend etwas getan“ werden.

Am Ende bestätigt die Berichterstattung im Plenum, was alle schon geahnt hatten: daß die Länder der Dritten Welt mit wenigen Ausnahmen die Leidtragenden des Binnenmarktes sind und daß seine GewinnerInnen vor allem in Europa leben. Über konkrete Atkionsfromen ist dagegen noch wenig zu sagen. Zu groß sind weiterhin der Bedarf an Information und die Unsicherheiten in der Einschätzung der EG. Da wird einem Redner heftig applaudiert, der die Parole ausgibt: „Antiimperialisten haben in der EG nichts mitzugestalten“. Kurz darauf wird die Feststellung, die EG habe zwar viele Nachteile, bedeute aber „immerhin die Abschaffung der Nationalstaaten“, ebenso energisch beklatscht.

Unsicherheit zeigt sich auch in der Debatte über ein Schlußdokument. Nach langem Ringen entschied sich der Kongreß für einen „Aufruf zu einem Diskussionsprozeß“. Der Buko will danach der „Logik des Kapitals“ entgegentreten und „dem Europa der Banken und Konzerne, der Militärs und Machtpolitiker“ die Zusammenarbeit von unten entgegensetzen.