„Es müßte noch viel mehr veröffentlicht werden“

■ taz-Sondernummer mit über 9.000 Stasi-Adressen gestern am Alex verteilt / Exemplare aus den Händen gerissen / Große Zustimmung zur Veröffentlichung - Eine Kurzbefragung

Mitte. Gestern mittag rund um den Alex. Redakteure und Redakteurinnen verteilen mehrere tausend Exemplaren einer Sondernummer der taz, in der über 9.000 Adressen von Immobilien des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes (Stasi) der DDR veröffentlicht sind. Zu dieser Aktion hatten sich eine große Anzahl von Redakteuren und Redakteurinnen aus verschiedenen Abteilungen der taz entschlossen, nachdem es in der taz zu mehrtägigen heftigen Diskussionen über die Frage gekommen war, ob eine solche Veröffentlichung, insbesondere von Wohnungen des Stasi mit genauen Adressenangaben, zu verantworten ist und damit die Herausgabe der Sondernummer vorerst blockiert war (siehe dazu die Erklärung auf Seite 15).

Die Sonderausgabe wurde den VerteilerInnen regelrecht aus den Händen gerissen. Doch der exklusive Lesestoff stieß nicht nur bei Bürgerinnen und Bürgern auf lebhaftes Interesse. Nur kurze Zeit nach dem Beginn der etwa zweistündigen Verteilaktion waren Journalisten von Rundfunkstationen und Zeitungen, verschiedene Kamerateams von Fernsehanstalten vor Ort am Alex, um über die Aktion zu berichten. Nachmittags liefen in der Redaktion der taz in der Kochstraße die Telefone heiß, weil viele Rundfunkjournalisten Interviews mit beteiligten taz -RedakteurInnen machen wollten.

Kurz nach der Aktion bestimmte die taz-Sondernummer das Bild am Alex. Auf den Bänken in den Parks und in den Kaffees rund um den Alexanderplatz saßen viele OstberlinerInnen und blätterten, manch einer mit erstauntem Kopfschütteln, in der brisanten Adressenliste. Die taz befragte einige von ihnen zu ihrer Meinung über die Veröffentlichung der Liste der Stasi-Objekte.

taz: Finden Sie es richtig, daß die taz die Liste der Stasi-Objekte veröffentlicht? Haben Sie die Befürchtung, daß es zu Übergriffen gegen Bewohner von Stasi-Objekten kommen könnte? Hätte DDR-Innenminister Diestel diese Liste veröffentlichen sollen?

Werner K., 28, Glaser: Es gab ja wohl Graduierungen zwischen Objekten und Wohnungen. Ich würde es nicht für gut halten, auch die Liste mit den Wohnungen zu veröffentlichen, aber prinzipiell muß so was schon öffentlich werden. Übergriffe? Ja, die Befürchtung habe ich schon, und dies würde ja auch dem Anliegen dieser Veröffentlichung widersprechen. Distel hätte die Liste schon veröffentlichen sollen, aber ich würde es auch befürworten, daß der Bundesnachrichtendienst mal so etwas veröffentlicht.

Rudi S., 39, Kraftfahrer: Vollkommen richtig. Es müßte noch viel mehr veröffentlicht werden. Die Stasi-Leute müssen da raus, die sollen sich 'ne andere Wohnung nehmen. Befürchtungen vor Übergriffen habe ich nicht. Det muß alles raus.

Werner H., 22, Dreher und Peter S., 23, Gärtner, beide aus Tangermünde: Mann, die Listen sind doch lange nicht vollständig. Aber das ist gut, die Veröffentlichung, auch so mit allen Hausnummern. Es wird zu Übergriffen kommen - hätte ich auch nichts dagegen -, aber nicht so doll. Und überhaupt, es ist doch nicht viel gewonnen, wenn man jetzt diese Liste hat, daß wußte man doch schon alles vorher.

Sabine M., 27, Sekretärin: Finde ich nicht richtig, die Veröffentlichung, weil soviel hochgespielt wird, jetzt muß doch langsam mal Schluß sein. Det kann nich sein, daß immer

-jetzt is det mit der RAF, den Terroristen hochgekommen alles auf die Staatssicherheit geschoben wird. Jetzt muß Schluß sein, det is meine Meinung.

Paul F, 28, KFZ-Schlosser: Finde ich richtig, damit ich mal in meinem Kreis, wo ick mal gewohnt habe, sehe, wat da geloofen is. Man hat ja immer so eventuelle Vorstellungen gehabt, aber hierdurch werden sie doch bestätigt. Is mal janz jut. Normalerweise hätte Distel die Liste veröffentlichen müssen, das hat die Bevölkerung verdient. Ich glaube nich mehr, daß es zu Übergriffen kommen wird.

Wolfgang T., 29, Volkspolizist: Richtig. Es ist natürlich schon ein Risiko, weil es da zu Übergriffen kommen kann. Ob das Innenministerium das dann veröffentlichen sollte... naja...

ger/ccm/naba