Jenseits des Ost-West-Konflikts

Die neue Trilaterale heißt USA-Japan-Deutschland  ■  E S S A Y

Die nachholenden Revolutionen in Osteuropa und die innere wie äußere Auflösung des sowjetischen Imperiums haben auch gravierende weltpolitische Konsequenzen. Das Ende des real nie existierenden Sozialismus besiegelt den Ost-West -Konflikt, der seit den späten vierziger Jahren alle übrigen weltpolitischen Konflikte zur Zweitrangigkeit verurteilt hatte. Wenn RGW und Warschauer Pakt sich aufgelöst haben, stellt sich die Frage, welche Funktionen ihren Pendants in Westeuropa und Ostasien noch zukommen, die in letzter Instanz allesamt aus einer Ost-West-Perspektive erdacht wurden - sei es um Sicherheit zu garantieren oder um die Überlegenheit des eigenen Systems zu demonstrieren.

Zwei Alternativen sind denkbar. Entweder es ergibt sich tatsächlich, wie Dieter Senghaas in seinem jüngsten Buch „Europa 2000“ dargelegt hat, die Chance einer friedlichen und vernünftigen internationalen Ordnung, weil über die Angleichung der Systeme die beteiligten Mächte auf den gleichen ordnungspolitischen Grundvoraussetzungen basieren. Oder es stellt sich heraus, daß die 40 Jahre lang durch den Ost-West-Gegensatz überlagerten Konflikte wieder an Profil gewinnen, daß sie nach einer Interimsphase der Neuorientierung zu den neuen Globalkonflikten werden.

An dieser Stelle soll es weniger um den Nord-Süd-Konflikt gehen, der zwar objektiv gegeben ist, der aber mangels Durchsetzungsmacht der Länder der nun auch begrifflich unsinnig gewordenen „Dritten Welt“ und aufgrund ihrer internen Interessengegensätze kaum an Virulenz zunehmen wird. Gedacht ist vielmehr an die klassischen Konflikte des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen den führenden Industrienationen, die in letzter Instanz aus der Ungleichzeitigkeit der Industrialisierungsprozesse und des damit sich aufbauenden Machtpotentials resultierten, und in zwei katastrophale Weltkriege mündeten. Der letzte dieser Konflikte zwischen der absteigenden Hegemonialmacht England und ihrem Herausforderer Deutschland führte zu dem nur auf den ersten Blick überraschenden Resultat, daß die USA als latente und seit dem 2. Weltkrieg eindeutige Hegemonialmacht reüssierten, weil dort ein unvergleichlich größeres Industriepotential entstanden war, das sich, wie die rasche Mobilisierung der vierziger Jahre zeigte, in kürzester Frist in ein entsprechendes Militärpotential umsetzen ließ. Vor diesem Hintergrund war der bereits damals von Japan angemeldete Anspruch von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Der neue Herausforderer hieß Sowjetunion. Sie konnte zwar niemals die behauptete Überlegenheit ihres Wirtschaftssystems unter Beweis stellen, war aber in der Lage, über eine einseitige Konzentration ihrer Ressourcen die militärische Parität zu erringen. Dem zu begegnen, zwang wiederum die USA seit Ende der siebziger Jahre in einen Zweifrontenkrieg. Militärisch die alte Überlegenheit zurückzugewinnen, war das Programm der Reagan-Ära, eine Aufgabe, die aus Sicht der amerikanischen Falken mit Erfolg bewältigt wurde.

Der Preis war allerdings hoch, vielleicht zu hoch, wie sich in der kommenden Dekade noch erweisen wird. Mußten die USA doch ähnlich wie die Sowjetunion einen wachsenden Teil ihrer Ressourcen (Finanzmittel, Forschungskapazitäten, Produktionsanlagen) für die militärische Verwendung reservieren und damit auf sträfliche Weise den zivilen Sektor vernachlässigen - also die zweite Front entblößen, die sich dem japanischen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt sah.

Die „japanische Herausforderung“ blieb aber so lange nur das innenpolitische Thema Nummer 2, wie der Krieg der Sterne gegen das „Reich des Bösen“ (Reagan) geführt werden mußte. Dieser war am Ende nur noch dank der finanziellen und technologischen Alimentierung durch die wichtigsten Bündnispartner möglich. Das amerikanische Dilemma bestand darin, daß sich beide Konflikte bezüglich ihrer Lösungsmöglichkeiten gegenseitig verschärften. Die hohen Rüstungsanstrengungen schwächten die zivile Wirtschaftskraft, die nachlassende Wirtschaftskraft verminderte die Fähigkeit zum eigenständigen Ausbau des riesigen Rüstungsapparats. Das astronomische Höhen erreichende amerikanische Doppeldefizit von Haushalt und Handelsbilanz markiert eben diese doppelte Schwäche - die nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit ebenso wie die nationale Leistungsfähigkeit. Gedeckt wurden beide Defizite durch die Überschüsse der wichtigsten Verbündeten und gleichzeitigen Konkurrenten, Japan und die Bundesrepublik.

Daß sich der japanische Konkurrenzdruck in Westeuropa vergleichsweise abgemildert zeigte, lag nicht zuletzt daran, daß der andere Verlierer des 2. Weltkriegs eine der japanischen vergleichbare Regenerationskraft demonstrierte, so daß sich eine doppelte Paradoxie ergibt. Japan und das demnächst vereinigte Deutschland erweisen sich nicht nur als die eigentlichen Gewinner des 2. Weltkrieges, sie sind auch die Nutznießer des amerikanisch-sowjetischen Hegemonialkonflikts, da sie das von beiden preisgegebene wirtschaftliche Terrain besetzen werden. Die Sowjetunion ist wirtschaftlich am Ende und steht politisch mit dem Rücken zur Wand, die USA sitzen auf einem nutzlos werdenden Rüstungsberg und haben in vielen Branchen ihre Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.

Daß Japan seine Ziele aus dem Pazifikkrieg erreicht hat, ist angesichts der erdrückenden Präsenz in Ost- und Südostasien und im pazifischen Raum unbestreitbar, ist doch die Region in eine auf Japan ausgerichtete Arbeitsteilung eingebunden. Selbst der bilaterale Handel mit den USA weist die aus unterentwickelten Ländern bekannte Asymmetrie auf, die USA liefern nur noch Rohstoffe und Nahrungsmittel und importieren Fertigwaren. Daß Japan zum Hauptgläubiger der USA geworden ist, japanische Banken die größten Finanzvolumina bewegen und Japan von der industriellen auch zu einer finanziellen Supermacht geworden ist, war die zwangsläufige Folge.

Folge war auch ein Erwachen des japanischen Nationalismus, der anläßlich der Umstände, wie der Tod des Tenno zelebriert wurde, auch die Weltöffentlichkeit in Erstaunen und Erschrecken versetzte. In dem Maße, wie die USA (wirtschaftliche) Schwäche zeigen, der Ost-West-Konflikt und die Bedrohung sich verflüchtigen, verliert auch der amerikanische Trumpf, die Sicherheitsgarantie, an Gewicht. Vor dem Hintergrund eigener Stärke und wachsender Wirtschaftskonflikte mit den USA wird dort schon seit langem die Option einer - regional begrenzten - Militärmacht diskutiert. Die finanziellen und technologischen Voraussetzungen sind zweifellos gegeben.

Die aus hiesiger Perspektive zentralere Frage lautet allerdings, ob sich ähnliches nicht auch im Hinblick auf die Bundesrepublik, wenn auch vorläufig noch in abgemilderter Form, abspielt. Ihre wirtschaftliche Position in Europa ist stark wie nie zuvor. Deren Indikatoren sind die gleichen wie in Japan. Seit vielen Jahren extreme Handelsüberschüsse unterstreichen die Wettbewerbsfähigkeit und setzen sich in einen entsprechenden Kapitalexport um. Die dominierende Rolle der BRD auf finanz- und währungspolitischem Sektor ist unbestreitbar. Selbst jeder Tourist kann das hautnah erleben, wenn er seinen Urlaub im Ausland verbringt. Die deutsche Vereinigung wird die Wirtschaftskraft trotz aller Kosten nicht verringern, eher auf mittlere Sicht noch gewaltig steigern.

Anders als Japan ist die BRD aber nicht in bilaterale, sondern in multilaterale Organisationen eingebunden, die die berühmte „Westintegration“ besorgten und aus französischer und britischer Sicht eine Kompensation für wirtschaftliche Unterlegenheit lieferten. Damit gewinnt die deutsche Nato und EG-Zugehörigkeit eine dramatische Wende. In Zukunft könnte es eher um die Kontrolle Deutschlands als um die Stärkung des westlichen Lagers gehen.

Insofern ist die sowjetische Forderung nach Neutralisierung die schlechteste aller denkbaren Lösungen. Eine mögliche Option bleibt immerhin, daß ähnlich wie Japan auch Deutschland seine alten Einflußsphären in Ost- und Südosteuropa bis in den Nahen Osten wiedergewinnt. Im Bereich von Handel und Währung ist das längst geschehen, und auch die Menschen dort scheinen genauso zu empfinden, wenn wie im 19. Jahrhundert die Armut dieser Länder in das geographische Zentrum Europas drängt und das Ersuchen um Kredite und Investitionen zuerst immer an die Bundesrepublik gerichtet ist.

Und wie in Japan ist auch der Nationalismus zu ganz neuer Blüte erwacht. Anders wäre das massive Vorpreschen der Politiker in der Deutschlandfrage gar nicht zu erklären. Wie weit die aktuellen Garantien für die polnische Grenze auf Dauer Bestand haben, muß sich erst noch erweisen, die gesamte Nachkriegsordnung in Mitteleuropa steht wieder zur Disposition. Im Grunde ist die deutsche Souveränität erstmals seit dem 2. Weltkrieg wirklich vollzogen worden, erleben wir das erste Mal, daß die Bundesregierung wirklich autonom agiert und die Alliierten mehr oder weniger sprachlos daneben stehen.

Damit stellt sich die Frage, ob nicht die Denkspiele der letzten Jahre von der Pentarchie (des Fünfecks aus USA, SU, Japan, China und EG) oder der neuen Multipolarität Makulatur geworden sind und eine trilaterale Konstellation aus USA, Japan und Deutschland ins Haus steht, deren Konflikte um Weltmarktpositionen die absehbare Zeit bestimmen. Das jüngste, vor diesem Hintergrund gar nicht mehr so bizarre Treffen der Chefs von Mitsubishi und Daimler in Singapur am gleichen Ort, an dem 1941 die britische Rolle in Fernost durch die Zerstörung ihrer Pazifikflotte besiegelt wurde eröffnet allerdings eine Horrorvision. Beides sind die mit Abstand größten Konzerne in ihren Ländern, und beide sind dabei, die zivile Fertigung zu verlassen und in den Sektor von Luft- und Raumfahrt sowie Rüstungsindustrie zu drängen, letzte Bastion der amerikanischen Wirtschaft.

Ulrich Menzel

Der Autor ist unter anderem Herausgeber der vierbändigen Anthologie „Im Schatten des Siegers: Japan“, die 1989 in der Edition Suhrkamp erschien.