Keine Demokratie ohne Spaltung

Allunionstreffen der „demokratischen Plattform innerhalb der KPdSU“ beschloß Förderungsprogramm an den Parteitag / Für den Fall der Niederlage wird die Aufteilung der Partei und ihres Vermögens gefordert / Pessimistische Prognosen für die Zukunft der KPdSU  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

„Angesichts der alles beherrschenden KPdSU andere parlamentarische Parteien gründen zu wollen ist so, als hoffe man von einer Bananenstaude, daß sie in russische Erde Früchte trägt. Die Spaltung der Partei ist Voraussetzung jeglicher politischen Opposition.“ Igor Tschubais, Gründer der „demokratischen Plattform innerhalb der KPdSU“, nahm mit solchen griffigen Metaphern gegen das Gründungsfieber von Parteien nach westlichem Muster Stellung. Ort des Geschehens war das Monumentalkino „Oktjabr“, wo zum Wochenende die „Plattform“, ein Zusammenschluß von Zentristen und linken Radikalen tagte.

Auf der zweiten Allunionskonferenz dieses Zusammenschlusses erörterten 877 Delegierte aus zwölf Unionsrepubliken das gemeinsame Programm: Umwandlung der KPdSU in eine Partei parlamentarischen Typs, alternative Wahlen auf allen Parteiebenen, die Abschaffung der Parteiorganisationen in Betrieben, Hochschulen und der Armee und die Umgestaltung der KPdSU in eine Föderation souveräner Kommunistischer Parteien der verschiedenen Sowjetrepubliken. Zur Einstimmung sahen die Delegierten den Dokumentarfilm So kann man nicht länger leben.

Daß die Anhänger der „Demokratischen Plattform“ bei Abstimmungen auf dem Parteitag kaum eine Chance haben werden, ist sicher, fraglich ist, ob man ihnen das Wort erteilt. Sie werden dort höchstens 150 der 5.000 Deputierten stellen, von denen viele nach bewährter Manier „von oben“ gewählt wurden. Dagegen haben bei Umfragen 60 Prozent aller Parteimitglieder in Moskau und Leningrad ihre Symphatie für die „Demokratische Plattform“ erklärt. Viele allerdings weniger deren Programms wegen als aus dem Wunsch heraus, daß es überhaupt eine Alternative in der KPdSU geben solle. Zu der naheliegenden Frage, ob es sich unter diesen Umständen überhaupt lohne, an dem Parteikongreß teilzunehmen, faßte der RSFSR-Volksdeputierte Wladimir Lyssenko das Diskussionsergebnis so zusammen: „Die Demokratische Plattform sollte ihren logischen Weg zu Ende gehen. Sie soll mit ihrer Konzeption einer parlamentarischen Partei auf dem Parteitag auftreten, und wenn sie dort von der Mehrheit der Delegierten nicht unterstützt wird, soll sie ihren Austritt aus der KPdSU erklären und die Gründung einer neuen politischen Partei in Angriff nehmen.“ Der etwa vierzigjährige Wissenschaftler gilt heute als Integrationsfigur der „Demokratischen Plattform“. Ihm schloß sich auch der Gründer der Bewegung, Igor Tschubais an. „Man kann die KPdSU ebensowenig verbessern wie eine Gaskammer“, wetterte der aus der Partei inzwischen ausgeschlossene Tschubais. „Unsere Gesellschaft exisitiert außerhalb von Kapitalismus, Sozialismus und Feudalismus, ja überhaupt aller -Ismen und auch außerhalb des gemeinsamen europäischen Hauses.“ Unter diesen Umständen könne sich Demokratie nur durch die Aufteilung der KPdSU in eigenständige Parteien entwickeln.

Einen besonderen Aspekt der Teilung, nämlich die Frage nach dem Vermögen der Partei, warf ein Delegierter aus dem sibirischen Tomsk auf. Schon lange fordert die „Plattform“ die Abgabe der Hälfte aller Parteidruckereien an den Staat in Gestalt der örtlichen Sowjets. Auch ist man nicht gewillt, die Partei „ohne Mitgift“ zu verlassen. Der Tomsker Genosse forderte in einer vehementen Rede einen „Nürnberger Prozeß“ gegen die KPdSU. Diese habe 70 Jahre lang auf verbrecherische Weise das Volk ausgeplündert und wasche jetzt noch schnell ihr schmutziges Kapital in Kooperativen und Joint-ventures rein. Das nach einer entsprechenden Untersuchung als rechtmäßig festgestellte Vermögen müsse unter die Nachfolgeorganisationen aufgeteilt werden.

Für einen Clou am Rande des zweitägigen Kongresses sorgte der gestandene KGB-General Oleg Kalugin, der seit drei Jahren wegen kritischer Denkschriften von seinem Arbeitgeber aufs Nebengleis abgeschoben worden ist. Das „neue Gesicht des KGB ist nur Kosmetik“, warnte Kalugin vor dem Forum, in Wirklichkeit hätten sich Methoden und Denken dieser Organisation seit Stalin, ja seit den Zeiten der zaristischen Ochrana im wesentlichen nicht verändert, auch nicht am Mißbrauch psychiatrischer Anstalten durch den KGB. Als er mit seinen ersten Reformvorschlägen an die Öffentlichkeit treten wollte, habe ihn ein Voritzender gefragt: „Glauben Sie nicht, Oleg, daß man bei so etwas schnell auf die Idee kommt, daß bei Ihnen im Köpfchen nicht alles richtig ist?“ - „In den Liedern unserer Gründungsväter gibt es die großartige Losung, für eine Idee zu sterben. Was wir aber verwirklicht haben ist, für eine Idee zu morden“, sagte Kalugin und appellierte an die Anwesenden: „Um in diesem Land Körner für die Demokratie zu säen, genügt es nicht, eine neue Partei zu gründen oder auch demokratische Institutionen einzuführen. Denn die Partei und die Gesellschaft werden vom Gespenst der Geheimpolizei beherrscht, und die Menschen leben in dessen Furcht. Solange wir uns von diesem Gespenst nicht befreien, kann unsere Gesellschaft niemals frei und demokratisch sein.