„Das bedeutet keine Revision meiner bisherigen Positionen“

Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) erläutert seinen überraschenden Volkskammerantrag für einen Beitritt der DDR zum Grundgesetz nach Artikel 23  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Ullmann, bislang galten Sie als profiliertester Vertreter einer DDR-Verfassung als Voraussetzung einer gesamtdeutschen Verfassungsdebatte. Ihre strikte Ablehnung eines bedingungslosen Beitritts der DDR nach Artikel 23 haben Sie immer wieder betont. Ihr gestriges Eintreten für einen Beitritt zum Grundgesetz, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, kommt einigermaßen überraschend.

Ullmann: Diese Initiative ist keineswegs als Revision bisherigen Positionen zu verstehen. Ich trete nach wie vor für eine DDR-Verfassung ein und bin auf keinen Fall für einen bedingungslosen Beitritt. Ich war aber wild entschlossen, diesen nichtswürdigen Verfassungsgrundsätzen, wie sie die Volkskammer kürzlich verabschiedet hat, eine andere, verhandlungsfähige Position gegenüberzustellen, die sich nicht nur als bloße Protestposition des Bündnisses versteht, sondern im besten Falle zu einer gemeinsamen Position aller Fraktionen hätte werden können.

Ist es aber nicht ziemlich riskant, einen Antrag auf Beitritt nach Artikel 23 einzubringen, obwohl es doch höchst umstritten ist, ob dieser Artikel überhaupt differenzierende Bedingungen für diesen Beitritt zuläßt?

Darüber läßt sich sicher streiten. Aber meine Intention war genau dieser Streit und zwar endlich im Parlament, das dafür zuständig ist. In diesem Streit hätte dann Artikel 23 selbst neu interpretiert werden müssen.

Die Volkskammer kann ja viel interpretieren; aber glauben Sie nicht, daß die Definitionsmacht über den Artikel 23 in Bonn liegt und auch dort beansprucht wird?

Auch das ist ein berechtigter Einwand. Deshalb lief mein Antrag darauf hinaus, einen Prozeß in Gang zu setzen, in dem wir gewissermaßen die Interpretation des Artikels für die Volkskammer beanspruchen. Im übrigen war der Antrag auf Beitritt ja an Bedingungen geknüpft: Die internationalen Verpflichtungen der DDR sollten ebenso unangetastet bleiben wie die Grenzen. Zudem sollten die Parlamente beider Staaten die Schritte erarbeiten, in denen die Einheit sich vollzieht. Das beinhaltet auch die Heranziehung des Artikels 146 des Grundgesetzes, der ja als Ziel eine neue gesamtdeutsche Verfassung beinhaltet.

Das setzt aber immer die Bereitschaft Bonns voraus, der Koppelung von Artikel 23 mit Artikel 146 zuzustimmen.

Das läßt sich natürlich nur einvernehmlich machen, aber ich frage mich, was spricht eigentlich dagegen?

Im Grundgesetz sicher nichts, aber auf Seiten der Bundesregierung scheint die Bereitschaft, im Zuge des Einheitsprozesses auch das Grundgesetz zu überdenken, eher gering.

Da stimme ich Ihnen zu, nur dann muß man doch sagen, es ist ein Skandal, daß sich die Bundesregierung hier in Gegensatz zu ihrer eigenen Verfassung stellt. Was ich mit dem Antrag intendiert habe, ist genau diese Diskussion zu entfachen und in die Volkskammer zu bringen.

Das, was an diesem Vorstoß irritiert ist ja auch nicht Ihre Intention, diese Debatte in der Volkskammer zu führen, sondern das Risiko, daß ein Antrag auf Beitritt eine Mehrheit gefunden hätte. Dann hätte sich doch die Volkskammer selbst ihre verfassungsmäßige Grundlage entzogen.

Das hätten die Bedingungen unseres Antrags ja gerade ausgeschlossen. Im übrigen wäre es kein Weltuntergang, wenn es keine DDR-Volkskammer und -Regierung mehr gäbe und sich die Länder der DDR mit denen der Bundesrepublik zu einem Bund deutscher Länder zusammenschließen würden.

Mein Vorschlag lief darauf hinaus, ernsthaft über das Ziel deutsche Einheit zu sprechen, eine Debatte, die meines Erachtens noch überhaupt nicht begonnen hat. Am Ende dieses Prozesses ist eine neue deutsche Verfassung denkbar, in der eine Volkskammer und ein Ministerrat nicht mehr nötig sind. Das würde auch für die Bundesrepublik einen erheblichen Transformationsprozeß bedeuten.

Aber es gibt offensichtlich einflußreiche Kreise in der Bundesrepublik, die das anders sehen.

Das ist wohl wahr, aber als deren politischer Gegner verstehe ich mich ja.

Was spricht denn gegen das jetzige Vorgehen, die Modalitäten des Beitritts vorab in einem zweiten Staatsvertrag auszuhandeln und danach den Beitritt nach 23 zu beantragen?

Dagegen spricht, daß es sich genau wie im Fall des ersten Staatsvertrages um ein Abkommen handeln wird, über das das Parlament nicht befinden kann. Das wird dem Parlament wieder mit der Vorgabe präsentiert: ändern kann man daran nichts!

Interview: Matthias Geis