Moderne Rechtlose im Zukunftsprojekt Europa

In den westeuropäischen Ländern nehmen atypische Arbeitsverhältnisse zu / Teilzeitarbeit ist eine Domäne verheirateter Frauen / Jede zehnte erwerbstätige Frau arbeitet heute in Teilzeit / In Bonn klagte ein „Putzfrauentribunal“ die sich ausweitenden Formen von Teilzeitarbeit und atypischen Beschäftigungsverhältnissen in Europa an  ■  Aus Bonn Ekkehart Schmidt

„Is ja wieder typisch“ - ein „Frauenthema“, und die taz läßt einen Mann 'ran - typisch für atypische Arbeitsverhältnisse: Beschäftigungsverhältnisse, die von der unbefristeten Vollzeitbeschäftigung abweichen. Typisch sind eine kurze Arbeitsdauer, eine geringe Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, schlechte Entlohnung und der Ausschluß von gesetzlichen Rechts- und Vertragsbestimmungen, wie sie für Vollzeitbeschäftigte gelten. Wenngleich Männer weniger betroffen sind, sieht sich der Berichterstatter - dies nur zur Rechtfertigung - dennoch als gutes Beispiel, ist er doch gleich doppelt betroffen: Als Aushilfsputzmann in einer Bonner Alkoholabfüllanstalt und freier Mitarbeiter eines Berliner Weltblattes.

Erheblich gravierendere Abhängigkeiten und Unsicherheiten haben viele ArbeinehmerInnen in der EG zum Teil während des ganzen Berufslebens zu erdulden. Dies verdeutlichte das „Putzfrauentribunal“, das auf Anregung der SPD-Abgeordneten in der Sozialistischen Fraktion des Europaparlaments am letzten Donnerstag im Bonner Gustav-Stresemann-Institut stattfand - zur Unterstützung einer entsprechenden Gesetzesinitiative. In der Rolle des „Obersten Richters“ hatte zunächst SPD-MdB Horst Peter das „Verfahren“ eröffnet und die Anklageschrift vorgetragen: Die europäischen Institutionen und nationalen Regierungen seien angeklagt, die sich ausweitenden Formen von Teilzeitarbeit und atypischen Beschäftigungsverhältnissen nicht hinreichend arbeits- und sozialrechtlich abgesichert zu haben. „Die Angeklagten verstoßen durch Unterlassen einer gesetzlichen Regelung gegen das allgemeine Rechtsbewußtsein.“

Zu schön wäre es gewesen, dies weiterzuführen, doch die angereisten über 100 Putzfrauen, ServiererInnen, Schwarz und WanderarbeiterInnen wollten sich nicht wieder ausgerechnet bei diesem Thema ausnutzen lassen: Als malerische Kulisse für ein so hübsch eine Gerichtsverhandlung nachahmendes Tribunal. Sie hatten sich nicht einfliegen lassen, um kurz und medienwirksam in den Zeugenstand gerufen zu werden. Simultandolmetscher für Portugiesisch, Italienisch und Griechisch waren offenbar für unnötig befunden worden - bei einem Plenum mit nicht wenigen Analphabeten. Diese bekamen eine geballte Ladung langatmiger und zum Teil unverständlicher Wissenschaftlichkeit verabreicht, die sich ausschließlich auf die deutsche Situation bezog. Schon der ersten Expertin gelang es, jeglichen Eindruck zu vermeiden, ihre Ausführungen könnten an die Betroffenen gerichtet sein.

Die Putzfrauen putschten gegen diese Zumutung. Erst zaghaft, dann mit wehenden Scheuerlappen fegten sie den über ihre Köpfe hinweg geplanten Ablauf vom Tisch. Die als „Anklägerin“ vorgesehene Brüsseler Expertin Hortense Hörburger hatte die Geduld verloren und das Signal zum Umsturz gegeben. Das Hohe Gericht zog sich zur Beratung zurück und beschränkte sich fortan auf die Moderation des verlangten intensiven Erfahrungsaustausches.

Schlecht bezahlt

und schnell gefeuert

Der Anstieg der Frauen-Erwerbstätigkeit in Europa hat zugenommen - jedoch nicht in Vollzeitarbeitsplätzen, sondern durch einen erheblichen Zuwachs von Teilzeitarbeit und prekären atypischen Beschäftigungsverhältnissen. EG-weit sind 14 Millionen ArbeitnehmerInnen von Teilzeitarbeit betroffen. Dazu kommen zehn Millionen ZeitarbeiterInnen. Sie werden schlecht bezahlt und schnell gefeuert, haben kaum Rechte und keine Lobby. Ihr Anteil steigt kontinuierlich, jede zehnte erwerbstätige Frau arbeitet schon heute in Teilzeit und meist zugleich in Zeitarbeit. Bei den Teilzeitbeschäftigten übersteigt der Frauenanteil in allen EG-Ländern die 60-Prozent-Marke, in der Bundesrepublik, Dänemark, Belgien und Luxemburg sind es gar über 85 Prozent.

Die meisten arbeiten, weil das Gehalt des Mannes nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. So auch die Bergarbeiter -Frau Lesley Sharp (38), die seit 13 Jahren am Wochenende als Pilzpflückerin in einer britischen Champignonfarm arbeitet. Die Mutter von vier Kindern ist weder kranken noch altersversichert, weil sie weniger als 16 Stunden pro Woche arbeitet. Es gelang ihr auch nicht, Urlaub durchzusetzen. Die Geschäftsleitung stellte sie vor die klassische Alternative: „Wenn es Ihnen nicht gefällt, es gibt genug andere, die den Job übernehmen.“

Pauline Robson (42) arbeitet seit 18 Jahren unregelmäßig und ohne festen Arbeitsvertrag als Bardame. Die Britin verdient für 18 Stunden in der Woche umgerechnet 150 Mark und ist weder kranken- noch altersversichert. Nikoleta Salech arbeitet seit zehn Jahren nachts in griechischen Vergnügungslokalen. 36 Stunden pro Woche verkauft sie Blumen. Daß die Arbeit „nicht ungefährlich“ ist, ist ihr Risiko. Nikoletas Arbeitszeit ist nicht geregelt, sie ist weder versichert, noch hat sie Anspruch auf Urlaubsgeld und Rente. Eine andere Griechin hat 48 Stunden pro Woche für 600 Mark geputzt - ohne Versicherung, Altersversorgung oder Weihnachtsgeld. Sie hat nie Urlaub machen können. „Einmal habe ich doch Urlaub gemacht, seitdem bin ich arbeitslos“, erzählt die etwa 60jährige.

Soziale Schlagseite

Nach Ansicht der Sozialistischen Fraktion hätten diese „modernen Rechtlosen der EG“ die gleichen Schutzrechte zu bekommen wie Vollzeitbeschäftigte, sonst drohe im Binnenmarkt ihre Verelendung. Die bisherigen Richtlinienentwürfe zu einer Sozialcharta scheiterten stets am Einstimmigkeitsprinzip - will heißen an Margaret Thatcher. Die Dringlichkeit, gegen „die soziale Schlagseite des Binnenmarktes“ anzugehen, veranlaßte die Sozialistische Fraktion jetzt zur Provokation, das erste Mal in der Geschichte der EG einen eigenen Gesetzesentwurf im Europaparlament einzubringen. Dieses Recht hat eigentlich nur die EG-Kommission. Diese soll nach Aussage der sozialpolitischen Sprecherin Heinke Salisch (SPD) damit gezwungen werden, „Eckpfeiler für die Gestaltung des Sozialraums Europa“ zu setzen.

Teilzeitarbeit ist zu einer Domäne der verheirateten Frauen geworden. Entsprechend wird sie aus Arbeitgebersicht durchweg positiv als Beschäftigungschance für Frauen angepriesen, bietet sie doch die Möglichkeit, „ihre Pflichten aus Familie und Beruf“ miteinander zu verbinden. Aus Arbeitgebersicht gibt es nur Vorteile: Atypisch Beschäftigte ermöglichen nicht nur niedrige Beschäftigungskosten, da Sozialabgaben entfallen, sondern auch Arbeitsintensivierung und Produktionssteigerung durch Flexibilisierungsmöglichkeiten. So können Produktionsschwankungen und Personalengpässe ausgeglichen werden. Kostensenkungen ermöglicht auch die Auslagerung von Arbeit aus den Betrieben durch Heimarbeit.

Aus Gewerkschaftssicht liest sich derselbe Sachverhalt entsprechend negativ: Geringfügige Arbeitsplätze ermöglichen den Abbau von Vollarbeitsplätzen, schließen für die ArbeitnehmerInnen von vornherein aus, rechtliche Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber stellen zu können, zwingen sie zur Anpassung und erzeugen größeren Leistungsdruck. Außerdem bieten sie kaum Möglichkeiten einer gewerkschaftlichen Interessenvertregung. Auch die geschlechtsspezifische Aufspaltung des Arbeitsmarktes sei bestehen geblieben. Ergebnis sei keine neue Arbeitsverteilung in Haushalt und Erziehung, sondern eine europaweite Mehrfachbelastung dieser Frauen.

In Übereinstimmung mit dem Gesetzesentwurf forderten die TeilnehmerInnen deshalb eine EG-weite einheitliche Regelung für geringfügig Beschäftigte, die Mindestgarantien zusichert. Alle atypisch Beschäftigten müßten einen Arbeitsvertrag erhalten, in dem Lohn, Arbeitszeit und Überstundenvergütung unmißverständlich geregelt sind. Falls gesundheitsschädliche Arbeiten zu verrichten sind, müßten diese schriftlich dargestellt werden. Den ArbeitnehmerInnen müsse ferner ein Kündigungsschutz zugesichert werden, der dem von Vollzeitbeschäftigten gleicht. Außerdem seien sie proportional zu den geleisteten Arbeitsstunden an allen sozialen Leistungen zu beteiligen. Schließlich müsse die Juristenausbildung auch die europäische Arbeits-und Sozialgesetzgebung beinhalten.