Heftiger Streit um Schnüffel-Papier zum § 218

Baden-Württembergisches Sozialministerium verweigert die Herausgabe ihres skandalösen Ratgebers zum Schwangerschaftsabbruch / Ärzte werden zur Recherche der Lebensumstände von schwangeren Frauen aufgefordert / Kritik von allen Seiten  ■  Von Erwin Single

Stuttgart (taz) - Seit Ministerpräsident Lothar Späth den Hardlinern seiner Christen-Partei vor drei Jahren auf dem Parteitag in Friedrichshafen die Wende auf Raten in Sachen Paragraph 218 versprach, reißt die Debatte um Abtreibung und „Lebensschutz“ immer tiefere Gräben auf. Jüngstes Beispiel: Ein Referentenentwurf aus dem Stuttgarter Sozialministerium, als „Handreichung“ für ÄrztInnen und Beratungsstellen zum „Schutz ungeborener Kinder“ gedacht (die taz berichtete), sorgt für neuen Wirbel.

Hartnäckig verweigert das Sozialministerium die Herausgabe des umstrittenen Papiers, das ÄrztInnen beim Indikationsverfahren auffordert, in den privaten Verhältnissen der Frauen eigene Ermittlungen anzustellen. Begründung für die Geheimnistuerei: es handle sich um einen „reinen Schubladen-Entwurf“. FDP-Fraktionsvorsitzender Walter Döring, der im Hause der Sozialministerin Barbara Schäfer um die Handreichung nachgefragt hatte, sprach von einem „unglaublichen Vorgang“ und einer Behinderung seiner Abgeordnetentätigkeit. Döring wollte sich auf die morgige Landtagsdebatte um den Entwurf vorbereiten, die von der SPD beantragt worden war.

Ärzte sollen eigene

Ermittlungen anstellen

Der 19seitige Entwurf mit dem Titel Dem Leben verpflichtet, der unserer Zeitung und einigen SPD -Abgeordneten kürzlich zugespielt wurde, enthält brisante Hinweise zur Handhabung der Notlagenindikation. ÄrztInnen hätten bei ihrer Entscheidungsfindung, ob eine Notlagenindikation festzustellen sei oder nicht, alle von der Frau vorgetragenen subjektiven Gesichtspunkte und objektive Umstände einzubeziehen, heißt es in dem Papier. Das sei schon deshalb notwendig, da Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt ihre Lebenssituation „mangels Kenntnis von Hilfen häufig zu negativ einschätzen“. Und wörtlich: „Gerade bei der Prüfung einer Notlagenindikation kann und darf sich der Arzt nicht nur auf das Vorbringen der Frau verlassen, sondern hat - im Zusammenwirken mit anderen Beteiligten (zum Beispiel Beratungsstelle, Angehörige, Arbeitgeber, Ausbildungsstätte) - eigene umfassende Ermittlungen anzustellen über die gesamten persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Frau.“ Die Ärzte hätten insbesondere die Personen anzuhören, „die zur Beseitigung der Notlage beitragen können, also Ehemann, Eltern, andere Angehörige, einen Kollegen, etwa den Hausarzt“.

Der Entwurf enthalte „unfaßbare Vorschläge“, mit denen ÄrztInnen zu „Schnüfflern“ gemacht werden, kritisierte SPD -Fraktionsvorsitzender Dieter Spöri den „peinlichen“ Entwurf, der seiner Ansicht nach sofort eingestampft gehöre. Als „unwürdige Schnüffelpraxis“ rügte auch der Pro Familia -Landesverband die Vorstellungen aus dem Ministerium. Auch die Landesdatenschutzbeauftragte Ruth Leuze hat inzwischen ihre Bedenken gegen den Entwurf angemeldet. Die Landesärztekammer, der nach Auskunft des Sozialministeriums das Papier seit Januar zur Anhörung vorliegen soll, sprach dagegen zart-zurückhaltend von einem Vorentwurf, gegen den teilweise Vorbehalte bestünden. Einem Hineinschnüffeln bis in die Familien erteilte die Standesorganisation jedoch eine klare Absage. Scharfe Kritik kommt jedoch von der Opposition im Verband: für die Vertreterversammlung Ende Juni hat der Arzt und Grünen-Abgeordnete Gerd Schwandtner bereits die Ablehnung der „Handreichung“ beantragt.

Das Sozialministerium versucht indes, die Brisanz des Papiers herunterzuspielen: Der Entwurf sei lediglich eine Zusammenstellung der Rechtsprechung. Auf eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Ernst Arnegger hatte das Ministerium jedoch bereits im März bestätigt, eine entsprechende Handreichung „als Auslegungs- und Anwendungshilfe zum § 218“ noch in diesem Jahr herausgeben zu wollen. Der Entwurf liege bei der Landesärztekammer.

Das Papier enthält über die dubiose Ermittlungsaufforderung an die ÄrztInnen hinaus Auslegungen der Notlagenindikation, die eigentlich nicht Sache des Sozialministeriums, sondern der Justiz sind. Zur Feststellung einer Notlagenindikation reichen „Situationen nicht aus, die mit der Gesundheitsgefährdung bei der medizinischen Indikation nicht vergleichbar sind“, schreiben die Verfasser und nennen einige der Situationen, die für eine „Bejahung der Notlagenindikation“ für sich allein nicht in Betracht kommen sollen. Aufgezählt werden: „die mit jeder Schwangerschaft üblicherweise verbundenen Belastungen“, „Gesichtspunkte der Familienplanung“, etwa ungewollte Schwangerschaft, die andere Planungen vereitelt oder der Ausfall der Frau als „Einkommensbezieher“ sowie „die Angst vor sozialer Diffamierung“ bei nichtehelicher Geburt oder Erwartung einer Mehrlingsgeburt. Das Gleiche soll auch für Indikationsbegehren aus materiellen Gesichtspunkten gelten, sofern die „Notlage durch die Inanspruchnahme geeigneter und zumutbarer Hilfen behoben werden kann“. Auch „Verzögerungen in der Ausbildung“, „schlechte Wohnverhältnisse“ oder „hohe Verschuldung“ sollen für eine Indikationsfeststellung der Interpretation aus dem Ministerium zufolge nicht genügen. Von „vorneherein unzulässig“ sei die Feststellung einer Notlagenindikation, wenn „andere Alternativen als der Schwangerschaftsabbruch“, etwa eine Adoption, „erst gar nicht geprüft oder mit der Frau erörtert worden sind“.

Im Stuttgarter Sozialministerium scheint trotz harscher Kritik aber Einigkeit zu bestehen, an der geplanten „Handreichung“ festhalten zu wollen. Nur eines hat Sozialministerin Schäfer schon angedeutet: Die endgültige Fassung wird erst beschlossen, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Normenkontrollklage Bayerns seine Entscheidung gefällt hat.