Artikel 16 Grundgesetz soll gekippt werden

Margit Gottstein, Mitglied des deutsch-deutschen amnesty international Asylarbeitskreises, zur Auswirkung des Schengener Abkommens auf Flüchtlinge aus außereuropäischen Ländern  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie ist es denn um Artikel 16 des Grundgesetzes bestellt? Teilen Sie die Befürchtung, daß er im Zuge einer europäischen „Harmonisierung“ eingeschränkt wird?

Margit Gottstein: Durchaus. Im Unterschied zur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gewährt Artikel 16 in Verbindung mit der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes jedem Flüchtling den Zugang zum Asylverfahren. Das setzt natürlich auch voraus, daß sich dieser Flüchtling bereits auf dem Territorium der BRD befindet - er kann nicht zurückgewiesen werden. Im Rahmen der GFK können Flüchtlinge in einen anderen Staat zurückgeschickt werden, solange davon ausgegangen wird, daß Flüchtlinge dort sicher sind. Dänemark praktiziert das zum Beispiel ausgiebig. Aufgrund von Artikel 16 kann die Bundesrepublik trotz Schengen und Asylkonvention dieses „one-chance-only„-Prinzip nicht anwenden. Äußerungen aus der CDU/CSU-Fraktion lassen schon ahnen, daß dies zum Anlaß genommen wird, Artikel 16 politisch auszuhebeln.

Sie haben den Schengen-Staaten, wie auch den EG-Ländern nicht nur eine asylfeindliche Politik sondern auch „Demokratiedefizite“ attestiert. Was heißt in diesem Zusammenhang „Demokratiedefizit“?

Diskussionen, die mit dem EG-Binnenmarkt und mit dem Schengener-Abkommen zusammenhängen und Flüchtlinge betreffen, werden geheim gehalten. Parlamente werden nicht informiert. Bis vor kurzem wurde nicht einmal der UNHCR informiert. In Menschenrechts- und Asylfragen werden die kompetenten Organisationen und Experten nicht befragt. Hier wird eine ähnliche Politik wie bei der Einführung des neuen Ausländergesetzes betrieben, wo auf der Ebene der Ministerialbürokratie Regelungen festgeklopft werden, zu denen die Parlamente nur noch ja oder nein sagen können. Die Kontrolle der EG-Gremien durch das Europa-Parlament ist ohnehin schon minimal. Selbst diese minimale Funktion des EP wurde ausgeschaltet. Ursprünglich war ja vorgesehen, daß die Aslykonvention in Form einer Asylrichtlinie durch die EG -Kommission formuliert beim EG-Ministerrat eingebracht wird und dann auch dem EP vorgelegt wird. Den Richtlinien-Entwurf gibt es zwar, er gelangt aber nie auf die Bänke des EP. Was da jetzt in Dublin unterzeichnet wurde, kam nur durch eine Degradierung des Europäischen Parlamentes zustande.

Wieviele Abgeordnete im Bundestag sind nach Ihrer Einschätzung mit der Materie vertraut?

Mit dem Begriff „Schengener Abkommen“ können sie wohl alle etwas anfangen. Daß es dabei auch um Asylpolitik und Flüchtlinge geht, wissen vermutlich nur vier Personen, nämlich die Mitglieder der Berichterstattergruppe, die vom Bundeskanzleramt immer wieder über den Fortgang der Schengener-Gespräche informiert wurde. Ob die das ganze Ausmaß überblicken, wage ich aber auch zu bezweifeln.

Wie müßte nach Auffassung von ai eine europäische Flüchtlingspolitik aussehen?

Notwendig wäre eine Diskussion auf europäischer Ebene, ob zum Beispiel der geltende Flüchtlingsbegriff überhaupt noch zeitgemäß ist. Benötigt werden Regelungen für den Status von „de-facto„-Flüchtlingen, also Asylsuchende oder abgelehnte Asylbewerber, die dennoch nicht abgeschoben werden können. Diskutiert werden muß, wie die Europäische Gemeinschaft, die ja eine nicht unerhebliche Wirtschaftsmacht darstellt, ein Prinzip des „Burden-sharings“ entwickeln könnte - zum Beispiel indem sich einzelne Staaten bestimmten Regionen oder Flüchtlingsgruppen widmen. Das darf allerdings nicht auf Kosten der Flüchtlinge geschehen, die hierherkommen. Aber solche Gedanken werden überhaupt nicht registriert, geschweige denn diskutiert. Nur das Europäische Parlament hat sich 1987 in einer Resolution dazu geäußert und festgestellt, daß der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention nicht mehr zeitgemäß ist. Dazu gab es konkrete Änderungsvorschläge. Diese Diskussion ist aber im Europaparlament hängengeblieben.

Wie müßte ein neuer Flüchtlingsbegriff aussehen?

Problematisch ist vielleicht weniger die Definition als die Auslegung. Amnesty international identifiziert zur Zeit vier Gruppen von Flüchtlingen, die generell nicht abgeschoben werden dürfen: PalästinenserInnen aus dem Libanon, Tamilen aus Sri Lanka, Kurden aus dem Irak und Issaqus aus Somalia (ein Klan, aus dessen Mitgliedern sich hauptsächlich die Befreiungsorganisation SNM rekrutiert). Alle vier Gruppen haben nach der herrschenden Praxis kaum Chancen auf Anerkennung durch die Behörden. Hier muß sich also schleunigst etwas ändern. Alle diese Gruppen kommen aus Bürgerkriegsländern. Bürgerkrieg ist sowohl nach der GFK als auch nach Artikel 16 kein „asylrelevanter Tatbestand“, weil von einem Bürgerkrieg alle betroffen sind, und nicht nur einzelne. Da denken andere, zum Beispiel die Organisation afrikanischer Staaten (OAU), schon viel weiter. Die Flüchtlingskonvention der OAU übernimmt den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention und erweitert ihn: Menschen, die aufgrund einer von Menschen verursachten Gewaltsituation fliehen - Bürgerkrieg, Invasion fremder Truppen, Revolution -, werden als Flüchtlinge anerkannt.

Das Gespräch führte Andrea Böhm