Im Herbst ist es zu spät

Friedrich Schorlemmer über Chance und Notwendigkeit einer neuen Verfassung für das vereinte Deutschland  ■ I N T E R V I E W

taz: Meinen Sie, daß es gegenwärtig noch möglich ist, Gehör für die Verfassungsproblematik zu finden, da jeder DDR -Bürger doch zunächst bestrebt ist, sein unmittelbares Fortkommen zu sichern?

Friedrich Schorlemmer: Meine erste Frage ist nicht die nach dem Erfolg, sondern danach, was jetzt nötig ist. Das war aber für mich in den letzten dreißig Jahren schon so. Auf der anderen Seite möchten wir wiederum genau die Menschen, die jetzt mehr an den Schlangen der Sparkassen stehen, jetzt schon bitten, sich klarzumachen, was wir übermorgen bedenken müssen, wie wir eine Gesellschaft aufbauen, in der jeder Platz hat, der Behinderte, die geschiedene Frau mit drei Kindern und der Fünfzigjährige, der die Arbeit verliert, wie wir den gesellschaftlichen Reichtum, den wir gemeinsam erarbeiten, auch wirklich möglich gerecht teilen, ohne daß wir wieder eine egalitäre Gesellschaft werden.

Werden die Bedingungen für eine Verfassungsdiskussion nicht im Herbst, wenn die ersten sozialen Erfahrungen mit der überstürzten Wiedervereinigung eingetreten sind, etwas besser sein?

Es könnte dann schon zu spät sein, weil erfahrungsgemäß solche sozialen Spannungen sich eher nach rechts hin entwickeln, weniger zur Demokratie als vielmehr zu diktatorischen Formen. Dann ist es sicher zu spät. Ich denke, das müßte jetzt bedacht werden.

Wie beurteilen Sie das Klima für eine Verfassungsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland?

Es gibt quer durch alle Parteien, auch in der West-CDU übrigens, Leute, die bereit sind, über diese Fragen nachzudenken und dabei vor allen Dingen das mit aufzunehmen, was in der DDR im letzten Herbst passiert ist. Zum Beispiel, daß die Regierung nicht am Parlament vorbei alles macht. Nehmen wir nur die Art, wie der Staatsvertrag zustande gekommen ist. Das ist keine Art, wie man ein solches Problem von historischer Tragweite angehen kann. Daß man etwas hinter verschlossenen Türen macht, dann dem Partner hinschickt, der kann noch ein paar kleine Änderungen anbringen, und die Opposition wird überhaupt nicht beteiligt. Man sollte also diesen Unfrieden auch in die Bundesrepublik tragen. Ich weiß noch nicht, wie die Bundesbürger auf uns reagieren werden, wenn sie dafür zur Kasse gebeten werden. Und das wird ja passieren, spätestens nach dem Wahltermin in der Bundesrepublik.

Nun gibt es aber in der BRD bei weitem nicht eine solche Verfassungskrise, wie sie durch den Umbruch in der DDR entstanden ist.

Es geht mir nicht um eine völlig neue Verfassung. Ich habe schon gesagt, daß das Grundgesetz sicher der Leitfaden sein wird, denn man wird nicht eine ideale Verfassung entwerfen wollen, von der man gar nicht weiß, ob sie in der Praxis funktioniert. Also wird man sicher vom Grundgesetz ausgehen, aber andererseits heißt es im Grundgesetz immer „jeder Deutsche“ usw., nein, ich denke, es muß heißen „jeder Mensch, der im Geltungsbereich der Verfassung lebt“. Was wird mit den Sorben, mit den Sinti und Roma, was mit den Türken? Ich halte eine solche nationale Fixierung für überholt. Wir brauchen einen Verfassungspatriotismus, der nicht ethnisch fixiert ist.

Eine Verfassung für Deutschland als Musterstatut für eine europäische?

Wir Deutschen sollten uns nicht wieder als Musterschüler aufspielen, sondern wir sollten einfach das unsere probieren, da wir jetzt eine historische Chance, die die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Verfassung unmittelbar einsehbar macht. Es geschieht ja nicht alle Tage, daß zwei Länder zueinanderkommen, die jeweils eine provisorische Verfassung hatten. Und natürlich könnte von bestimmten neuen Verfassungsgrundsätzen, nehmen wir den Passus über den Umweltschutz im Verfassungsentwurf, eine Art Vorbildwirkung ausgehen.

Das Interview führte Stefan Schwarz