Neue Chancen für Sandinistas an der Basis

Der Machtverlust hat die FSLN in eine Krise gestürzt / Nach Jahren des Zentralismus üben die Sandinisten Parteidemokratie / Noch keine klare Strategie gegen die Regierung Chamorro / Wird es einen Generationswechsel in der nationalen Parteiführung geben  ■  Aus Managua Ralf Leonhard

Wird aus der Kaderpartei FSLN eine basisdemokratische Massenpartei, eine bürokratische sozialdemokratische Partei oder ein Zwischending? Wie soll das neue Programm aussehen? Soll der bürgerlichen Regierung Violeta Chamorros eine Schonfrist gewährt werden oder attackiert man gleich mit voller Kraft? Wann kommt der Generationswechsel in der nationalen Führung? Auf all diese Fragen gibt es noch keine Antworten. Doch am 16.Juni ist der innerparteiliche Diskussionsprozeß eröffnet worden, der die FSLN aus dem Tief führen soll.

Die Partei steckt in einer tiefen Krise - auf den Machtverlust war sie nicht vorbereitet. Dutzende Kader haben ihre letzten Illusionen verloren und sind bis auf weiteres nach Mexiko, in die USA oder nach Europa verschwunden. Manche haben ein Stipendium organisiert, und beginnen nun ein Studium, andere waren zufrieden, bei Verwandten unterzukommen, um nach Jahren hingebungsvoller aber fruchtloser Arbeit einfach einmal Abstand zu gewinnen. Bis zum Parteikongreß, der wahrscheinlich im Januar stattfinden wird, müssen die Basiskomitees und die Massenorganisationen Konzepte entwickeln, wie es weitergehen soll.

Straff geführt in die Niederlage

Voraussetzung für die Grundsatzdiskussionen, die auch das neue Parteiprogramm hervorbringen sollen, ist die Aufarbeitung der Wahlniederlage. Daß die unerwartete Schlappe nicht ausschließlich der infamen Politik des US -Imperialismus und den Ungerechtigkeiten des Weltmarktes zuzuschreiben ist, hat sich inzwischen bis zum Nationaldirektorium herumgesprochen. Keiner wagt heute noch zu bestreiten, daß der Kontakt zur Basis verlorengegangen ist. Wie könnte man sonst erklären, daß die Partei vom Wahlverhalten des Volkes so überrumpelt wurde? Der autoritäre Führungsstil und die Selbstgefälligkeit vieler Kader und Comandantes wird heute offen kritisiert. „Säulenheilige“, die auf Grund ihrer Position oder historischer Verdienste nicht kritisiert werden dürfen, soll es nicht mehr geben.

Informell hat der Prozeß der Selbstkritik also längst begonnen, doch die Bunkermentalität, die in den Jahrzehnten des Untergrunddaseins entstanden war und sich in den Kriegsjahren verfestigt hatte, ist noch nicht überwunden. Anders ist nicht erklärbar, warum parteiinterne Veränderungen noch immer wie Staatsgeheimnisse vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Eigentlich wäre es Aufgabe der Parteizeitung 'Barricada‘ gewesen, über die Umstrukturierung im Zentralausschuß der FSLN zu berichten. Der durchschnittliche Zeitungsleser erfuhr jedoch von den Veränderungen an der Spitze nur durch einen tendenziösen Korrespondentenbericht eines US-Journalisten, der im Chamorro-Blatt 'La Prensa‘ nachgedruckt wurde. Inzwischen hat sich auch Daniel Ortega dazu geäußert. Das Führungsgremium innerhalb des Nationaldirektoriums wurde nämlich nach den Wahlen von fünf auf drei Mitglieder reduziert. Koordinator oder Parteichef bleibt Daniel Ortega, der trotz der Wahlniederlage nichts von seinem Ansehen eingebüßt hat. Die Konsequenzen der Schlappe hat Wahlkampfmanager Bayardo Arce zu tragen, der als Vizekoordinator vom ehemaligen Wirtschaftsminister Luis Carrion abgelöst wird. Und dritter Mann, gleichzeitig Verantwortlicher für die Außenbeziehungen, wurde Henry Ruiz, der lange Zeit ein Schattendasein geführt hatte. Seine Kritik an vielen Entscheidungen der Regierung, nicht zuletzt an der Vorverlegung der Wahlen unter Kriegsbedingungen, hat sich nachträglich als richtig erwiesen. Bayardo Arce wird sich nun um die Wirtschaftsbetriebe der Partei kümmern: ein Verlag, eine Druckerei, ein Buchimportunternehmen... General Humberto Ortega mußte alle Parteifunktionen aufgeben, um Armeechef bleiben zu können. Auch Carlos Nunez zieht sich aus dem Tagesgeschehen immer mehr zurück. Dem an Kehlkopfkrebs leidenden ehemaligen Parlamentspräsidenten sollen die Ärzte keine zwölf Monate mehr geben.

Eigenverantwortung will gelernt sein

Die Comandantes des Nationaldirektoriums sind praktisch aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Vergeblich wartet man auf offizielle Stellungnahmen der Partei zu den Ereignissen, die die Nation beschäftigen. Etwa zur zögernden Demobilisierung der Contras oder zur Wirtschaftspolitik der Regierung. Selbst als sich die sandinistischen Gewerkschaften Mitte Mai mit einer Streikwelle gegen Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und unzureichende Lohnerhöhungen zur Wehr setzten, blieb die Partei im Hintergrund. Derzeit gibt es zwei Strömungen, was die Taktik gegenüber der Rechtsregierung betrifft. Die radikalere will jetzt schon in die Offensive gehen. Die pragmatischere will sich dem Rhythmus anpassen, den die Regierung mit ihrem konterrevolutionären Roll-back vorgibt. Die historischen Flügelkämpfe in der FSLN spielen dabei keine große Rolle mehr. Vielmehr neigen jetzt alle, die Regierungsverantwortung getragen haben, eher zur gemäßigten Linie, während die Funktionäre, die die Stimmung an der Basis besser kennen, zur Aktion schreiten wollen.

Einigkeit herrscht hingegen darüber, daß die Parole „Nationaldirektorium: befiehl!“ ausgedient hat. „Jede Gruppe soll sich heute mit ihren Mitteln für ihre Interessen einsetzen“, erklärt ein FSLN-Funktionär. Selbständigkeit statt Zentralismus heißt die neue Linie. „Bindende Anweisungen von oben gibt es nicht mehr und darf es auch nicht mehr geben“, verkündete Comandante Tomas Borge der erstaunten Parteibasis bei einer Gedenkfeier Ende Mai, „denn sie ersticken die Kritik im Keim“. Der ehemalige Innenminister, der bisher nicht gerade für seine basisdemokratische Gesinnung bekannt war, gab als erster die neue Devise aus: es darf diskutiert werden. Und diskutiert wird heftig und auf allen Ebenen, seit das blinde Vertrauen in die Führung erschüttert ist. Viele brave Parteimitglieder, die jahrelang gewohnt waren, ihre Instruktionen zu bekommen, sind allerdings durch das Autoritätsvakuum verunsichert. Kritik üben und Eigenverantwortung tragen will gelernt sein.

Tomas Borge deklarierte seine Ausführungen als persönliche Meinung, sprach aber zweifellos die Themen an, die auf höchster Ebene diskutiert werden. Auch das Nationaldirektorium soll nun von der Basis in geheimer Abstimmung gewählt werden. Die Demokratisierung der Strukturen öffnet die Tür zur Vollmitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale, kann aber auch den Weg zu einer Massenpartei ebnen. War die Vollmitgliedschaft in der FSLN bisher nur einem exklusiven Zirkel von erprobten Leuten vorbehalten, so sollen in Zukunft alle, die mitarbeiten wollen, ein Parteibuch bekommen.

Eine neue Generation von Sandinisten?

Diejenigen, die immer schon - vergeblich - gegen das zentralistische Führungsprinzip angerannt waren, werden jetzt zu Wortführern einer neuen Generation von Sandinisten. Man trifft heute kaum noch Parteikader, die sich nicht nachträglich als Dissidenten deklarieren aber nie auf Verständnis gestoßen seien, vielleicht auch nicht den Mut aufbrachten, konsequent für ihre Überzeugung einzutreten. Die Comandantes, die kaum gewohnt sind, Kritik an ihrer Arbeit zu hören, müssen sich jedenfalls auf harte Zeiten gefaßt machen. Auch wenn nicht jeder so weit geht, wie die Herausgeber des satirischen Wochenblattes 'Semana Comica‘, die in der jüngsten Ausgabe warnten: „Nicht alle von uns verdienen eine zweite Chance. Anderen sollten wir diese Chance geben: aber an der Basis“.