Gesamtdeutsche Wahlen - jetzt

■ Je schneller gewählt wird, desto besser für die Menschen in der DDR

Wahlkampftaktik ist das Einzige, was sich hinter dem Streit um den Termin für gesamtdeutsche Wahlen verbirgt. Die SPD in der DDR droht mit Ausstieg aus der Regierungskoalition. Die SPD-West nutzt ihn als letztes Faustpfand in den Staatsvertragsverhandlungen. Bundeskanzler Kohl im Konzert mit der CDU-Ost will schnell wählen, bevor noch die DDR -Bürger aus dem D-Mark-Taumel erwacht sind. Die SPD-Ost will später, weil sie zunächst ihre marode Partei aufmöbeln muß. Die Grünen in Ost und West wollen am liebsten gar nicht, damit sie ihren Träumen von einer alternativen DDR noch eine Weile nachhängen können.

Diejenigen, die es angeht, das Volk, fragt keiner. Dabei gäbe es gerade für die Menschen in der DDR gute Gründe, ihre Stimme schnell abzugeben. Die Chance für einen politisch gestalteten Weg in die deutsche Einheit war verspielt, als die Diskussion um eine gemeinsame Verfassunggebende Versammlung und den Zusammenschluß nach Artikel 146 vom Tisch des Parlaments gewischt war. Mit dem 18. März hat die DDR eine Regierung gewählt, die den Verfassungsentwurf des Runden Tisches zwar für ein intellektuell interessantes Papier hält, sich im täglichen Geschäft aber lieber am „Modell Deutschland“ orientiert. Fortan war die deutsche Einheit Verhandlungsmasse zweier Regierungen. Das hat das Volk möglicherweise nicht gewollt, doch müßte es jetzt daraus zumindest Konsequenzen ziehen. Seit Wochen spielen sich in der Volkskammer entwürdigende Szenen ab. Parlamentarier lassen sich dazu mißbrauchen, bundesdeutsche Gesetzesrudimente zu übernehmen, ohne diese auch nur richtig gelesen zu haben. DDR-Politiker erscheinen als unfähige Dillettanten.

Der Antrag von Bündnis 90 auf sofortigen Beitritt verbunden mit der Selbstverpflichtung, eine Verfasssunggebende Versammlung nach Artikel 146 einzusetzen, ist kein gangbarer Weg mehr. Er wird als demonstrativer Versuch, den gerissenen Faden aus dem November noch einmal aufzunehmen, in die Geschichte eingehen.

Jetzt kann nur noch eine baldige gesamtdeutsche Wahl die Menschen in der DDR von ihrem Status „Zweiter Klasse“ befreien. Sie würden über Nacht zum - hoffentlich selbstbewußten - umworbenen Subjekt der parteilichen Stimmengier. Bei einer Wahl entscheiden 76 Millionen Gleichberechtigte über die Zukunft Deutschlands in Europa. Man kann nur hoffen, daß dann die Grünen und die Bürgerbewegungen präsent sind. Doch damit es dazu kommt, muß die Opposition in beiden Teilen Deutschlands ihre Mauer im Kopf einreißen.

Brigitte Fehrle