Im Südwesten rast die Müllsau durchs Dorf

Quer durchs Land wehren sich in Baden-Württemberg die Anwohner gegen geplante Riesenöfen zur Verbrennung von Giftmüll und treten Minister Vetter in den Hintern / Späths Müllmann verteidigt hartnäckig seine Standortpläne und ruft händeringend um Beistand  ■  Von Erwin Single

Stuttgart (taz) - „Wir sind keine Vermummten, keine Steinewerfer, sondern Bauern, Handwerker, Beamte und Angestellte, Angehörige der Feuerwehr, des Musikvereins, von Sportvereinen und anderen Gruppen.“ Klaus Ulbrich vom Herrenberger Verein „Vermeiden statt verbrennen“ weiß, was Handwerker und Feuerwehrmänner zu einer Bürgerinitiative eint: der Kampf gegen einen Giftmüllofen vor der Haustüre. Fast über Nacht ist auch in Baden-Württemberg eine breite Protestbewegung gegen die Giftmüllverbrennung entstanden, die Hunderttausende auf die Straße brachte. Allein in Stuttgart waren es Ende April 50.000, die von der Ostalb, aus Hohenlohe und dem Ballungsraum Stuttgart zu einer Demonstration zusammenströmten: Das Volk werde die „Verbrennungsabgeordneten des Landtags nicht aus ihrer Verantwortung entlassen“, funkten die Bürgerinitiativen an die Landesregierung.

Die Standortsuche für zwei geplante Giftmüllöfen bringt ganze Landesteile auf die Palme. Die Pläne des südwestdeutschen Müllministers Erwin Vetter sehen eine Verbrennungsanlage im badischen Kehl vor; die zweite im schwäbischen Teil soll entweder in Hüttlingen bei Aalen, im hohenlohischen Kupferzell oder in Dagersheim bei Böblingen hochgezogen werden (die taz berichtete). Gegen den Bau der Giftöfen erheben Experten trotz verbesserter Technik und neuen Emmissions-Grenzwerten nach wie vor erhebliche verfahrens- und sicherheitstechnische Bedenken. Neben den ultragiftigen Dioxinen pusten die Schlote Unmengen an Stick und Schwefeloxiden, Kohlenstoffen und Staub in die Luft.

Doch der ewig lächelnde Müllminister muß den Giftmüll beseitigen - um jeden Preis. Im Industrieland Baden -Württemberg fallen jährlich rund 350.000 Tonnen hochtoxischer Sonderabfälle an. Und die Deponien quellen über. Dazu kommt: die DDR, mit über 100.000 Tonnen bislang Baden-Württembergs größte Müllkolonie, will den Dreck inzwischen auch nicht mehr haben. Das Land selber besitzt aber nur eine Deponie im nordbadischen Billigheim (Kapazität: eine Million Tonnen). Würde alles dorthin verfrachtet, wäre die Deponie innerhalb kürzester Zeit voll.

Vetter setzt deshalb auf die „thermische Entsorgung“. Über eine Milliarde Mark will er sich die zwei Sondermüllverbrennungsanlagen kosten lassen, mit denen jährlich 100.000 Tonnen Giftmüll verfeuert werden könnten. Bei seinen Plänen erhält er die Unterstützung der landeseigenen Müllfirma „Sonderabfallentsorgung Baden -Württemberg“ (SBW), die den Kehler Ofen betreiben will. „Eine Verbrennungstechnik auf dem neuesten Stand ist doch besser, als wenn der Sondermüll in nicht mehr kontrollierbaren Kanälen ins Ausland fließt“, hatte vor kurzem SBW-Geschäftsführer Hans-Richard Lang die Einwohner von Kehl zu beschwichtigen versucht. Und Vetter drohte in seiner Umwelt-Regierungserklärung: Wer den Bau solcher Anlagen verweigere, gefährde ganze Industriebranchen.

Dieselbe Industrie produziert den meisten Sondermüll. Lack und Farbschlämme aus Lakierereien der Automobilindustrie sowie Kühl-Schmiermittel, Öle und Emulsionen aus der Metallindustrie machen allein schon ein Drittel des gesamten Giftbergs aus; Schlacke und Sand aus Gießereien, Ölverunreinigte Schlämme, Lösungsmittel, Säuren oder Chemikalienreste komplettieren das Programm. Mehr als 60 Prozent des Sondermülls stammt aus dem industriestarken Mittleren Neckarraum um Stuttgart. Daimler-Benz, die ihren „allerschärfsten Widerstand“ gegen einen Böblinger Giftofen in ihrer Werksnähe angemeldet haben, ist nach Vetters Angaben selbst einer der größten Sondermüllproduzenten. „Das sind die Abfälle von Unternehmen und nicht vom Umweltminister oder vom Landtag“, raunte Vetter in der Sondermülldebatte, „die Wirtschaft wird unglaubwürdig, wenn sie nicht sagen kann, was sie getan hat, um Müll zu vermeiden.“

Doch viel mehr als fromme Vermeidungsapelle sind vom Müllminister nicht zu erwarten. Ankündigungsminister Vetter zauberte noch schnell eine „bundesweit beispiellose“ Sondermüllabgabe aus dem Hut: 50 bis 150 D-Mark pro Tonne soll der giftige Dreck künftig die Betriebe kosten. „Lächerlich“, sagen die Kritiker und rechnen vor: Mercedes, die laut Angaben 10.000 Tonnen Lackschlämme verursachen, müßten bei 100 Mark pro Tonne im Jahr nur eine Million hinblättern. Der Wirtschaft allerdings ist selbst dies noch zu hoch; sie beschwören „Wettbewerbsnachteile“. Auf diesem Hintergrund wirkt ein Brief Vetters, den er mit der Bitte um Offenlegung ihrer Sondermüllentsorgung an 700 Firmen richtete, geradezu rührend. Mit dem Geld der kümmerlichen Abgabe will Vetter eine „Abfallberatungs-Agentur“ ins Leben rufen. Zehn Müllberater sollen ausschwirren und Firmen über Strategien der Abfallvermeidung informieren. Derweil zeigt der Konzern mit dem Stern dem Minister, wie er es mit der Vermeidung hält: Er kündigte prompt ein umweltfreundliches Autolakierverfahren an, verschwieg aber, daß dabei erheblich mehr Farbabfall entsteht.

An der Frage, wieviel des Sondermülls durch Umstellung der Produktion tatsächlich vermieden werden kann, scheiden sich unterdessen die Geister. Während Vetter auf die Einsicht der Unternehmen hofft, werfen Kritiker den industriellen Abfallerzeugern vorwiegend in der Metallindustrie vor, durch Verantwortungslosigkeit und falsches Management bislang den Einsatz verfügbarer Technologien zur Vermeidung verhindert zu haben. Eine verfehlte, einseitig auf die Entsorung ausgerichtete Abfallpolitik und eine mangelnde Bereitschaft, mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen mehr Druck auf die Müllvermeidung in der Produktion auszuüben, hätten den „Sondermüllnotstand“ gefördert.

Doch selbst wenn sich, wie Vetter hofft, eine Vermeidungsquote von 50 Prozent erreichen läßt, bleibt eine erhebliche Menge zur Wiederverarbeitung und zur Entsorgung übrig. Ob der zur Entsorgung bestimmte Müll deponiert oder verbrannt werden soll, ist wiederum strittig - selbst unter den Grünen. Deren umweltpolitischer Sprecher im Landtag, Winfried Kretschmann, hält eine Restverbrennung ebenfalls für unvermeidbar, was von den Landes-Grünen entschieden abgelehnt wird. Kretschmann muß nun ausgerechnet als Kronzeuge für Vetters Verbrennungsstätten herhalten.

Die Suche nach einem Bauplatz für die Feuerstelle hat inzwischen auch die interfraktionelle Arbeitsgruppe im Landtag gespalten. „Wir sind doch nicht die Müllsau der Regierung“, schimpfte Kretschmann. Die Opposition fordert eine weitere „Suchschleife“ für geeignetere Standorte. Vetter hingegen, der erklärt hat, ihn werde nichts und niemand aufhalten, hält stur an seinen Standortplänen fest. Die CDU-Landtagsmehrheit verhinderte sogar eine namentliche Abstimmung, um ihre „Verbrennungsabgeordneten“ nicht in eine peinliche Situation zu bringen. Der Kehler Müllofen ist kaum noch zu bremsen. Trotz 50.000 schriftlicher Einwände, wurde im Eilgang das Raumordnungsverfahren durchgepeitscht. Der Bauplatz liegt ganze 300 Meter von den ersten Häusern entfernt. In Kehl-Auenheim gibt es außerdem eine erhebliche „verbrennungsspezifische Vorbelastung“ durch Industrie und den französischen Altofen „Tredi“ auf der anderen Rheinseite.

Gegen das geplante „monstre allemand“ machen auch die Franzosen Wind: „Falls die deutschen Behörden an Kehl festhalten, gehen wir vor Gericht“, kündigte Straßburgs Bürgermeisterin Catherine Trautmann an. Und an den drei anderen Standorten haben sich längst auch wohlbekannte CDU -Politiker in die Phalanx der Giftmüllgegner eingereiht darunter Ex-Bundestagspräsident Philip Jenninger.