„Existenzdruck führt zu Eigeniniiative“

■ Die Studenten wurden bislang mit ihrer Forderung nach Erhöhung der Studienbeihilfe im Regen stehen gelassen / Heute treffen sich die Studentenräte zu einer landesweiten Konferenz / Es soll entschieden werden, wie es nach den Protestaktionenweitergeht

Berlin (taz) - Die Studentenräte der DDR wollen nicht „zurück zum Prinzip der finanziellen Abhängigkeit“ von den Eltern. Unter diesem Motto treffen sie sich heute zu einer außerordentlichen Konferenz an der Humboldt-Universität in Berlin. Thema wird dabei eine Auswertung der zweiwöchigen Aktionen vor und in der Volkskammer sein. Außerdem wollen die Studentenräte das weitere Vorgehen in der Stipendienfrage abstimmen. Und sie werden wohl auch nicht umhin kommen, die Perspektiven studentischer Politik auszuloten, deren Rahmen in etwa so aussieht: Wie kann die DDR-Wissenschaft ihre Vergangenheit aufarbeiten und ihre Position in der Gesellschaft neu bestimmen, wenn sie dabei mit dem rasenden Vereinigungszug Schritt halten soll?

Hinter den Studierenden der DDR, zumal denen aus Berlin, liegen zwei turbulente Aktionswochen. Einer der Höhepunkte war der 7. Juni. Da versammelten sich etwa 10.000 Studentinnen und Studenten vor der Volkskammer, um für die Erhöhung ihres Grundstipendiums von 200 auf 495 Mark zu demonstrieren. Das ist das „Existenzminimum, das die Wirtschafts- und Währungsunion ab 1. Juli in der DDR erzeugen wird. Während der Demonstration war die Straße Unter den Linden zwischen Berliner Dom und Volkskammer einen halben Tag lang blockiert. Die Minister Peter-Michael Diestel, Walter Romberg und Hans-Joachim Meyer versuchten die Stipendiumserhöhung um lediglich 80 Mark vor den aufgebrachten StudentInnen zu rechtferigen. Im Plenarsaal entrollte unterdessen eine Gruppe von StudentInnen Transparente und ließen Flugblätter auf die Abgeordneten regnen.

Am Mittwoch letzter Woche gab das Bildungsministerium den Beschluß des Ministerrats offiziell bekannt, das Stipendium auf 280 Mark zu erhöhen. In der Pressemitteilung hieß es, daß „unter Berücksichtigung der Einkommenslage der Familie des Studenten differenzierte Erhöhungsbeiträge bis maximal 450 Mark“ gewährt werden könnten.

Vergangenen Freitag kam es dann zu einem weiteren Höhepunkt. In der Volkskammer verlas Parlamentsvizepräsident Reinhard Höppner zu Beginn einer Aktuellen Stunde eine Erklärung von Studenten. Der vom Republiksprecherrat verfaßte Text fand reichlich Zustimmung im Parlament. Dennoch präsentierten die Abgeordneten den Studierenden ein kräftiges „Ja, aber“: Sogar von 500 Mark könne man kein „anständiges Leben“ führen, gestand etwa DSU-Fraktionschef Hansjoachim Walther ein. Aber es könne nicht immer der Staat zahlen, brachte er ein „neues Prinzip“ in die Debatte, das Dieter Helm (DBD) präzisierte: „Ein gewisser Existenzdruck fördert die Eigeninitiative.“ Nach der „enttäuschenden Debatte“ (Republiksprecherrat) steckten die protestierenden StudentInnen erstmals deutlich zurück. Sie sagten die Demonstration zum Ministerrat ab.

Die heute stattfindende „Konferenz der Studentenräte der DDR“ will Bilanz ziehen. Der Studentenrat der Humboldt -Universität hat sie für sich bereits skizziert. Das jetzt Erreichte - Erhöhung des Stipendiums auf 280 Mark, Beibehaltung der Leistungs- und Sonderstipendien - sei ein Erfolg. Als zentraler Punkt habe sich die Forderung nach Elternunabhängigkeit herausgeschält, von der man nicht abgehen dürfe. Zu der „starren Forderung“ von 495 Mark, so Ronald Freytag von der Sprechergruppe des Studentenrats, müßten nun „konzeptionelle Vorschläge“ gemacht werden.

Diese Vorschläge werden über das derzeitige Thema der sozialen Lage der Studierenden hinausgehen. „Wir müssen den Leuten draußen vermitteln, daß Studium Arbeit bedeutet“, meinte ein Studentenvertreter am Montag. Dies weise auf weitergehende Fragen hin wie die Rolle von Universität und Studierenden in Gesellschaft und Staat. Bloßer Aktionismus bringe die Antwort darauf nicht näher; sie müßte eher in der Teorie gesucht werden. Ob die StudentInnen der DDR dazu kommen werden, sich in Ruhe Gedanken über ihr Selbstverständnis zu machen, steht in Frage. Dem Vereinigungsexpreß hinterherhastend kreisen die Diskussionen an den Hochschulen der DDR derzeit mehr ums nackte Überleben als etwa um eine Vergangenheitsbewältigung.

Gerade hier könnten das „verkaderte“ Wissenschaftspersonal und das konservative bundesdeutsche Hochschulrecht in fataler Weise zusammenwirken. Schließlich gilt es, die delikate Aufgabe zu lösen, wie man allzu getreue SEDlerInnen im Wissenschaftsbereich los wird, ehe sie per Hochschulrahmengesetz und Beamtenstatus in unkündbare und machtvolle Positionen gehievt werden: nämlich in die des beamteten Professors, der in beinahe allen Selbstverwaltungsgremien der Universitäten die absolute Mehrheit besitzt. Es wäre eine besondere Ulknummer deutscher Geschichte, daß ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung zum Hochschulrecht 1975 SED getreuen WissenschaftlerInnen zu Lebenszeitpositionen verholfen haben würden.

Hier soll nicht einer pauschalen Ausgrenzung ehemaliger SED -Mitglieder das Wort geredet werden. Es muß der Satz des Historiker Siegfried Prokop von der Humboldt-Universität gelten: „Unsere Trauerarbeit müssen wir schon selber leisten.“ Aber zu dieser Prämisse muß für die Hochschulen und Universitäten hinzugefügt werden: nicht alleine die Professoren! Da müssen schon die Studierenden mit ran. KeineR kennt seine/ihre Pappenheimer besser; niemand kann durch Transparenz und Kontrolle in den Selbstverwaltungsgremien verhindern, daß das bißchen Spielraum vergeudet wird, den der überhastete Vereinigungsprozeß in Wissenschaft und Forschung übrigläßt. Den Weg könnte eine Regelung weisen, wie sie die Karl-Marx -Universität in Leipzig anstrebt. Dort sollen die Studierenden bei Um- und Neuberufungen gleichberechtigt mitentscheiden dürfen.

Und hierin liegt auch ein positiver Aspekt, der von der deutschen Vereinigung ausgehen könnte. Im Republiksprecherrat ist man der Ansicht, daß im Zuge des „Zusammenschmeißens“ im Herbst eine gesamtdeutsche studentische Initiative gestartet werden solle. Momentan sind die Studenten und Studentinnen in Mitbestimmungsfragen weiter als ihre KommilitonInnen in der BRD. Sie könnten also dazu beitragen, die „ständisch organisierten“ Selbstverwaltungsgremien der westdeutschen Universitäten zu demokratisieren.

Christian Füller

Die Konferenz der Studentenräte tagt heute um 13 Uhr (im Raum 1070) der Humboldt-Uni.