Lebendig gefühltes Denken

■ Wolfgang Kohlhaase in Bremen: Über Lebensgefühl, übers Dableiben, übers Wegzeigen und Hinsehen

„Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“, sagt er lächelnd auf meine Frage, was wohl das Thema seines nächsten Filmdrehbuchs sein werde. Zu früh wäre es für ihn, einen Film über die aktuelle Erdrutschentwicklung in der DDR zu machen, denn „Film hat mit Lebensgefühl zu tun, und es ist schwer, über das eigene Lebensgefühl Bescheid zu wissen.“ Wie schwer also ist es gerade jetzt, in dieser Zeit der schnellen politischen Entscheidungen, in der es „so viel Stoff zum Denken und Verarbeiten gibt wie nie zuvor“, mit dem Lebensgefühl hinterherzukommen.

Und wenn Wolfgang Kohlhaase, der Drehbuchautor aus der DDR, über das Lebensgefühl von Menschen nachdenkt, dann drückt sich das nicht nur in pointensicheren, lakonisch-treffen

den Filmdialogen aus - es ist auch der Mann selbst, der Nachdenken über Lebensgefühle und lebendig gefühltes Denken in seiner Person verbindet. So leicht, so klug, so witzig und so selbstverständlich, daß man ihm zuhören, zuhören, zuhören möchte - zwischen Wehmut und Freude schwankend: Wehmut, weil man an diesem Menschen spürt, von welcher Kraft und Hoffnung das Modell des Sozialismus in der DDR anfangs getragen war; Freude, weil man an diesem Menschen spürt, daß das Scheitern des Sozialismus in der DDR nicht alle Kraft und Hoffnung zerstören muß.

Mit seinen Filmen wollte und will er Menschen „eine genauere Vorstellung ihrer Lage“ vermitteln, „soziale Phantasie“ entwickeln gegen den „Alleinvertre

tungsanspruch auf Realitätsbe wußtsein“, wie er in der DDR geherrscht hat. Und von „sozialer Phantasie“, von Lebensgefühlen - das zeigen auch seine Filme - versteht er mehr als die, die sagen, man müsse doch den Menschen in der DDR, anstatt sie jetzt zu überrollen, Zeit geben, eigene Strukturen zu entwickeln. Diese Zeit wollen die Leute und wollen sie doch nicht: „Sie haben Angst vor diesem Tempo, aber sie forcieren es auch selbst. Das Gefühl, die 'arme Verwandtschaft‘ zu sein, sitzt tief.“

Wolfgang Kohlhaase fühlt sich verwurzelt in der DDR und hat auch früher nie daran gedacht, das Land in Richtung Westen zu verlassen. „Ich bin hier aufgewachsen und bilde mir ein, den Himmel, die Bäume, die Menschen ein bißchen besser zu kennen als anderswo.“ Das heißt nicht - wie man ja am Verbot des Films „Berlin um die Ecke“ sehen kann -, er hätte konfliktfrei in der DDR gelebt. Aber: „Nicht jeder, der hier geblieben ist, hat konfliktlos gelebt. Und nicht jeder, der gegangen ist, ist wegen eines Konflikts gegangen. Man muß jeden Einzelnen fragen. Simple Erklärungen gibt es nicht.“

Simple Erklärungen - und simple Urteile: Das gibt es für Wolfgang Kohlhaase nicht. Und das vermittelt dieser Mann als gelebte, erfahrene, gefühlte und gedachte Haltung, mit einem zurückhaltend-präsenten Sinn für Witz und Leichtigkeit. Das prägt

seine Formulierungen. „Nicht jeder hat Recht, nur weil der andere Unrecht hat“, sagt er und meint damit das Feindbild -Denken, das „Wegzeigen von sich“, das mit dem Scheitern des Sozialismus nicht zu Ende ist. Und während er vom „Wegzeigen“ spricht, sehe

ich hin auf seine Arme, die voller Sommersprossen sind. Voll Sonnenpünktchen, mit denen empfindliche Haut sich schützt. Ich liebe Sommersprossen, weil sie als täuschend-lustige Mimikry Verletzlichkeit kaschieren.

Sybille Simon-Zülch