Regeln statt Wettbewerb

■ Die Stadt, das Geld und die Demokratie: Vierte Folge der Serie zum Potsdamer Platz

Dieter Hoffmann-Axthelm

Um den schnellen Zugriff von Daimler-Benz und Senatsbauverwaltung auf den Potsdamer Platz zu bremsen, wurde die Parole „städtebaulicher Wettbewerb“ ausgegeben. Die Alternative Liste war erfolgreich in ihrem Drängen, brachte die Senatsmehrheit auf Linie und die wiederum Daimler-Benz. Aber was kann ein städtebaulicher Wettbewerb leisten, abgesehen vom Zeitaufschub? Er löst nicht das städtebauliche Problem Potsdamer Platz. Nach einem Wettbewerb wird man hilfloser dastehen als vorher. Das Gebiet zunächst ist für einen städtebaulichen Wettbewerb viel zu klein. Die wesentlichen Einflüsse auf das Gebiet, Herkunft der Verkehrströme, die vorhandenen expansiven Verwaltungen liegen außerhalb. Wie der Städtebau auf diesem Terrain aussehen müßte, verlangt eine Gesamtvorstellung. Nur mit ihr kann man die anstehenden Fragen klären, wie mit verschärfter Citybildung und politischem Verwaltungsumbau umzugehen ist? Wo die zu erwartenden Verdichtungen hingelenkt werden sollen? Wie der Ost-West- und der Nord-Süd -Verkehr zu behandeln ist? Die Erarbeitung eines solchen Konzepts braucht längere Zeiträume, auf die man besser nicht wartet. Für einen städtebaulichen Wettbewerb jetzt bliebe also eine höchst fragmentarische Aufgabe übrig: der Durchbruch der Leipziger Straße als Schnellstraße und der Versuch, die Daimler-Investition so weit wie möglich mit Stadt-Ästhetik einzurahmen. Da werden dann, im Inneren einer monofunktionalen Geschäftsstadt, die heutigen Plätze mehr oder minder arrondiert und noch einmal gezeichnet, die üblichen neuen Plätzchen erfunden. Solcherlei urbanistische Arabesken haften kaum auf dem Gelände, sind durch nichts motiviert. Die Stadt braucht sie nicht. Natürlich wird man von Torsituationen reden. Aber bei sechs Fahrspuren wird das Potsdamer Tor selbst verschwinden. Höchst ungewiß, daß man rechtzeitig bemerkt, daß die Ausweitung der Leipziger Straße auf sechs Spuren angesichts der heutigen S-Bahn-Eingänge und der Lage des S-Bahn-Tunnels Unsinn ist.

Im Klartext: Der Wettbewerb ist gänzlich unnötig! Was gibt es denn zu erfinden? Die Stadt ist da. Straßen, Plätze, Grundstücke, Hausnummern, immer noch sogar auch einzelne Häuser sind vorhanden. Die Denkmalspflege redet mit, die Geschichte auch: das Holocaust-Mahnmal soll jetzt, nach dem Willen der es propagierenden Initiative, nicht mehr auf dem RSHA-Gelände, sondern auf dem der ehemaligen Neuen Reichskanzlei entstehen. Ist das alles zusammen nicht mehr als genug? Das Selbstbewußtsein einer Großstadt sollte ausreichen, um es bei den vorhandenen Formen zu belassen. Es handelt sich um ausreichend großzügige Räume, die es wieder zum Sprechen zu bringen gilt, statt erst einmal von einem allezeit willkürlichen Verkehrsbedarf auszugehen und dann dementsprechende Massenverteilungen erfinden zu lassen. Weitere Vergrößerungen wäre das Ende des städtischen Raums. Die innerstädtische Leere, die wir zwischen Philharmonie und Staatsbibliothek bereits heute erreicht haben, sollte Warnung genug sein. Was man uns verspricht, ist ja nur die sechsspurige Verbindung dieses Desasters mit dem zehnspurigen Größenwahn der Leipziger Straße jenseits des Leipziger Platzes.

Statt dessen ist Normalität nötig, das heißt Anwendung städtebaulicher Regeln. Darauf zielt die „Charta für die Berliner Mitte“, an der die Gruppe „9. Dezember“ arbeitet. Es muß dafür gesorgt werden, daß nicht einzelne Großelefanten das Gelände zudecken, sondern die einzelnen Investitionen sich in die vorhandenen Stadtstruktur einordnen. Auch dieses Ziel kann, weil es sich dabei durchaus um kreative Arbeit handelt, mit einem Wettbewerb verbunden werden. Aber das wäre ein Methodenwettbewerb und kein Wettbewerb zum Neuentwurf des Stadtgebiets. Wenn die Bedingungen der Einordnung geklärt sind, dann kann Grundstück für Grundstück entschieden werden: Bauherrenwettbewerbe und Architekturwettbewerbe, jeweils zu seiner Zeit und an seinem Ort.

Der entscheidende Zwischenschritt wäre also die konkrete Kleinarbeitung des Geländes, die den Zerstörungsdruck bevorstehender Besetzungen wegnähme. Die Aufgabe soll hier kurz skizziert werden. Es geht darum, anhand des Instruments Parzellierung, die verschiedenen Ansprüche an das Gelände mindestens: Zentrum, Funktionsmischung, Verkehrsknotenpunkt, Geschichtsort - mit dem Gelände zusammenzubringen. Ein einfacher Rückgriff auf historische Eigentumszustände ist ausgeschlossen. Die Geschichte ist weitergegangen. In dem Gelände selbst haben sich die Eigentumsverhältnisse radikal geändert, und die Minimalgrößen, in denen heute Kapitalanleger investieren, liegen erheblich über denen vor 1945. Andererseits kann man sich die Kleingliederung des Geländes nur schwer als schematischen Vorgang vorstellen. Es wäre in Quadratmetern die Frage zu beantworten, wieviel Konzentration man eigentlich zulassen, wieviel Mischung man erreichen will. So gingen einmal die Planer im 17. und 18. Jahrhundert vor, als sie die Friedrichstadt entwarfen und absteckten: Reiche Leute und Fabrikanten bekamen große Grundstücke, Handwerker kleine, Brauer Eckparzellen. Diese aufgeklärte Übersicht war schon im vorigen Jahrhundert undenkbar. Jeder Investor besorgte sich nach Lage, Größe und Zuschnitt das Grundstück, das er brauchte und bezahlen konnte.

Kann es heute überhaupt ein Ziel sein, wieder - und sei es im Namen ökologischer Vernunft - zu derartigen vorsorglichen Aufsichtsformen zu kommen? Natürlich kann man als Planer sich auf einen ganz einfachen Standpunkt stellen: Wenn man weiß, wie hoch der Anteil der unterschiedlichen Funktionen Wohnen, Industrie, Kleingewerbe, Handel, Tertiäres usw. - an der Stadt ist, kann man versuchen, das in Flächenprozente umsetzen und jeder Nutzung den ihr im Gesamtmodell der Stadt zustehenden Flächenanteil zuzuweisen. Aber wer sagt mir, daß die Proportionen gesund sind? Und wie ginge ein solcher Zuweisungsapparat mit den immer schnelleren technischen Umschwüngen um? Vor Einer solchen Stadtökologie von oben kann man nur warnen.

Man muß vielmehr mit Einzelschritten zufrieden sein, die aufeinander aufbauen. Eine Aufgabe wäre es, einen Mittelwert zu finden zwischen historischem Bestand und konstruierten Bedingungen - gewissermaßen zwischen den zwei drastischen Eckpunkten „um 1900“ und der Daimler-Option: Auf den Flächen, die heute Daimler als selbständige Blöcke angeboten werden, befanden sich um 1900 rund 60 Parzellen unterschiedlicher Größe. Jetzt soll alles in einer Hand und aus einem Guß sein. Was am wenigsten willkürlich ist, ist der heutige Grundstückbestand. Das Gelände ist ja parzelliert, wie ein einziger Blick auf den üblichen Senatsplan 1:4000 zeigt. Eine neue Parzellierung zu erfinden, wäre auch heute reine Willkür. Die historischen Parzellen sind zwar ebenfalls keine Werte an sich, aber sie haben im geschichtsträchtigen Gelände zweifellos den Wert historischer Dokumente. Man muß also davon immerhin so viel übrigbehalten, daß zweierlei greifbar bleibt: einmal, das Grundgerüst der langen Grenzlinien von Grundstück zu Grundstück zwischen Bellevuestraße und Kanal, also das agrarische Muster, in dem sich die gesamte Parzellierungsgeschichte bewegt hat und das die Gegend am Potsdamer Platz mit der Parzellierungsstruktur Schönebergs und Kreuzbergs verbindet. Zum andern die Identifizierbarkeit historischer Orte, also durchaus, trotz aller konzentrationsbedingter Grundstückzusammenlegungen, die ablesbaren Hausnummern, die Wohnorte von Tätern und Opfern.

Der heutige Parzellenbestand macht ein Drittel dessen um 1900 aus. Man sollte meinen, daß man es dabei, angesichts der Tiefenausdehnung der Berliner Blöcke, mit einigermaßen realistischen Grundstückgrößen zu tun hat. Nimmt man diesen grundbuchamtlichen Parzellierungsstand als Ausgangspunkt des Verfahrens hin, kann der Planungsvorgang beginnen. Bestimmte Grundstücke bleiben außen vor, zum Beispiel das des Volksgerichtshofs. Das kann die Stadt Berlin sich leisten. Das schuldet sie sich und ihrer Pflicht zur historischen Gedächtnisleistung. Es gibt keine ökonomische, politische oder planerische Normalität, die sie davon dispensieren könnte. Andere Grundstücke werden für kulturelle Zwecke vorgesehen (darunter die Fläche des Potsdamer Bahnhofs). Ferner geht es um eine Stützung der heute bebauten Parzellen als Schlüsselgrundstücke zur öffentlichen Kontrolle des Geschehens: Sie dürfen auf keinen Fall verkauft oder sonstwie aus der Hand gegeben werden.

Dann bleiben die zu verkaufenden Grundstücke. Die einzelnen Parzellen kann man zwar nicht auf dem freien Markt, aber immerhin innerhalb der Grenzen der Landeshaushaltsordnung den Investoren anbieten. Hier spätestens müssen demokratische Verfahrensweisen einsetzen. Also keine bilateralen Verhandlungen, sondern Wettbewerbsverfahren! Wer bauen will, soll sich um eines (oder mehrere) der ausgeschriebenen Grundstücke bewerben.

In diese Ausschreibung gehen dann die weiteren Forderungen ein, die an die Bebauung zu richten sind. Als Wettbewerbsbedingung müßten mindestens folgende Forderungen aufgegeben werden: 1) gemäßigte Höhenentwicklung und Verdichtung in die Tiefe des Grundstücks; 2) Funktionsmischung. Wenn man von der Dominanz tertiären Kapitals ausgeht, muß mindestens ein relevanter Anteil von Wohnen und Gewerbe garantiert sein; 3) Gebäudetypologien, die die Funktionsmischung baulich organisieren; 4) stadtökologische Maßnahmen, die die höhere Verdichtung bilanzieren und die eine regionale Belastung vermeiden.

Damit stellt sich die weitere methodische Aufgabe, Typologien zu entwickeln. Das wäre ein hinreißende Aufgabe für die Architektur. Die herrschenden Reglementierungen des Baumarktes, allem voran die staatlichen Förderungsmethoden, sind so rigide, daß kaum jemand bisher über das heute Übliche und Mögliche hinausgedacht hat. Stadtökologischer Umbau kann aber wirklich nicht Sozialer Wohnungsbau plus Grasdach heißen. Er verlangt vielmehr eine Antwort darauf, wie die Mischung von Funktionen, wie das Neben- und Ineinander von Wohnen und Arbeit denn nun gebäudetypisch organisiert werden soll.

Diese stadtökologischen Gebäudetypen können verbindlich gemacht werden, einmal als Vorgabe von Investoren- und Bauherrenwettbewerben, zum andern, zusätzlich, über veränderte Förderungsprogramme. Eine Utopie? Es sind im Grunde die gleichen Mitteln wie schon unter Friedrich Wilhelm I. angewandt wurden: Damals wurde in den Neubauvierteln mit Geld- und Materialzuschüssen gefördert, wer sich den vorgegebenen Typenentwürfen anbequemte (man konnte sich auch den Platz aussuchen, nur, ob man überhaupt bauen wollte, das überließ Friedrich Wilhelm bekanntlich nicht der Baulust seiner vermögenderen Untertanen). Das wäre ein großer Schritt voran auf dem Wege einer kleingearbeiteten, am einzelnen Ort (bis hinunter auf die Parzelle) verhandelten Stadtökologie.

Man tut jetzt in Berlin oft so, als sei das Wort Stadtökologie ein Wort aus schon vergangenen Epoche, als gälten wiederum nur die Parolen der sechziger Jahre: Wohnungen und Arbeitsplätze nämlich. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Arbeitsplätze und der Struktur der Bebauung. Was wir am Potsdamer Platz erleben, ist der Vortrupp einer Tertiarisierungsoffensive, die das Ende der Industriestadt Berlin (West wie Ost) bedeuten kann. Erst die besondere Natur der versprochenen 8.000 Arbeitsplätze erklärt die große Begeisterung des Wirtschaftssenators: Es handelt sich um die flächendeckende Invasion sauberer Arbeitsplätze - nur Computer und Angestelltenkultur, weder Schornstein noch produzierende Arbeit, genau das also, was heute beliebt ist.

Das aber ist nicht Stadtökologie. Die sauberen Arbeitsplätze leben von den schmutzigen, die sie verdrängen. Die Schmutzigen sind aber die ökologisch entscheidenden. Alle beteuern, sie hätten nichts gegen Daimler. Ich auch nicht, aber eben doch im Blick auf die Produktionsstätte Marienfelde, das heißt, daß sie dort bleiben und produzieren. In einer Stadt, die für die osteuropäische Armut offen ist, ist es eine Frage des Überlebens, daß sie Produktionskompetenz behält und nicht zu einer bloßen Bürometropole degeneriert. Das entscheidet sich nicht nur, aber auch am Potsdamer Platz. Städtebauliche Entscheidungen dort reden immer von mehr als bloß dem, was dort gebaut werden soll: Die Auseinandersetzung steht stellvertretend für die Zukunft der gesamten Stadt.