Falsche Diplomaten, GIs und der Spion aus der Kälte

■ Mythen über Mythen um eine Baracke: Heute nimmt Berlin Abschied von einer Hauptsehenswürdigkeit / Episoden und Erinnerungen aus der Geschichte des Checkpoint Charlie - von Sir Alec Guiness bis Peter Fechter

Kreuzberg. Die Alarmsirenen schrillten, alle Sperrampeln sprangen auf Rot, die schweren Eisentore schlossen sich automatisch. Man schrieb den 20. Juli 1988, Schauplatz war der Checkpoint Charlie, und verhindert wurde die Flucht eines 28jährigen Autoschlossers. Fünf Grepos stürzten sich auf den Mann, der gemeint hatte, Turnschuhe reichen, um die Absperrgitter zu überwinden, und führten ihn in Handschellen ab. Ein ausländisches Fernsehteam filmte den Vorfall. Die verhinderte Flucht vom 20. Juli war die letzte spektakuläre Aktion vor dem 9. November. Gelungene Fluchten machten kein Aufsehen, denn auch Ostler lasen die West-Zeitungen.

Erfolgreiche Fluchten am Checkpoint Charlie gab es viele Hunderte. Allein zwischen 1961 und 1963 über 1.200. Sie buddelten keine Tunnel unter Straßen und seilten sich auch nicht über Dächer ab, sondern nutzten die Besonderheit des Grenzübergangs. Sie verwandelten sich von DDR-Bürgern in Diplomaten, ausländische Touristen oder alliierte Soldaten.

Die frühen sechziger Jahre waren Goldgruben für kommerzielle Fluchtunternehmen und schauderhaft schöne Zeiten für Geheimdienstler aus aller Welt. Der berühmteste Agentenaustausch stand auf dem Papier und flimmerte von allen Leinwänden. Alec Guiness fror vor den Schlagbäumen des Ausländerübergangs und wartete auf den Spion der aus der Kälte kam. Er kam, und John Le Carre wurde an den Tantiemen reich.

Sauftouren und

Diplomatenfluchten

Die Alltagsfluchten waren weniger hollywoodreif, aber nicht minder nervenaufreibend. Weil Fluchthilfe mit orginalgetreu gefälschten Pässen auch von westlichen Gerichten bestraft wurde, verkaufte der Gastwirt Albert Schütz Phantasieausweise. Statt „Corps Diplomatique“ war „Confederation Diplomatique“ zu lesen. Auch UNO-Duplikate waren im Handel, und ihre Besitzer wurden von den Grepos besonders freundlich durch die Schleusen an der Friedrichstraße gewunken. Schließlich wollte die DDR in die UNO aufgenommen werden, und Schikanen an der Grenze hätten dem Image geschadet.

Einfallsreich verteidigten auch die alliierten Soldaten die Freiheit in Berlin. Nach dem 13. August gehörte nicht nur das Robben durch den Grunewalder Matsch zu den militärischen Aufgaben der Schutzmächte, sondern ebenfalls der fleißige Transit von West nach Ost und von Ost nach West. Die meisten dieser Systemwanderer besserten in den Kaschemmen von Berlin Mitte mit Zigarettenschmuggel ihren Sold auf oder kauften im Kaufhaus Centrum die Wodkalager leer. Auch die „Froileins“ im Osten waren weniger reserviert als die im Westen, obwohl diese Anbändeleien streng geahndet wurden. „Don't feed the bear“, verratet keine Geheimnisse, war in diesen Jahren auf einer handgemalten Tafel am Checkpoint Charlie zu lesen. Geheimnisse waren sicher hoch im Kurs, aber militärische Rangabzeichen auch. DDR-Bürger kauften sie und hefteten sie auf selbstgeschneiderte Uniformen. Nach der nächsten kollektiven Soldaten-Sauftour war ein Betrunkener mehr im Straßenkreuzer gen Westen. Solche Eskapaden bestraften die Headquarters mit wochenlangem Bau und Degradierung, aber unter den GIs stieg das Ansehen. Den „Reds“ und „Commies“ hatte man es wieder mal gezeigt.

Panzer rollen an die Grenze

Die für östliche und westliche Militärangehörige freie und unkontrollierte Ein- und Ausreise über den Checkpoint Charlie war zwar durch den Berlinstatus gesetzlich geregelt, aber erstreiten mußten sich die West-Soldaten dieses Recht dennoch. Im Oktober 1961 kam es zu einer ernsthaften Konfrontation mit den Kontrollposten der DDR. Zivile Fahrzeuge der westlichen Militärverwaltung wurden gestoppt, eine Weiterfahrt nur nach Ausweis zeigen erlaubt. Die Amerikaner wollten die Provokation nicht hinnehmen. Schwere Panzer rollten zum Checkpoint Charlie und vor ihnen ein ziviles Fahrzeug. Noch ehe die Grepos den PKW stoppen konnten, hatten sechs GIs mit gezogenem Bajonett den Wagen eingekreist und erzwangen die unkontrollierte Einreise. Eine Woche lang und alle drei Stunden wiederholte sich diese Zeremonie gleich zweifach - bei der Ein- und sofort anschließenden Ausfahrt. Die Sowjets zogen nach. Hundert Meter gegenüber den US-Panzern wurden sowjetische Tanks aufgefahren, die Motoren der schweren Fahrzeuge brummten Tag und Nacht. Es war ein Höllenlärm, und die Fernsehkameras von CBS und NBC sendeten wieder mal live den Kalten Krieg in die amerikanischen Wohnzimmer. Das war ja fast so gruslig wie in Kuba und Korea. „Wir verteidigen die Freiheit von London, Paris und New York, wenn wir für die Freiheit von Berlin einstehen“, erklärte Kennedy.

Der Tod von Peter Fechter

Das zweite aufwühlende Ereignis am Checkpoint Charlie fand ein Jahr nach dem Bau der Mauer statt. Und diesmal war es tödlich ernst. Der 18jährige Lehrling Peter Fechter war bereits die Mauer hochgeklettert, als ein Lungenschuß ihn traf. Er fiel zurück auf den Todesstreifen und verblutete dort in 50 langen Minuten. Westberliner Polizisten warfen dem Sterbenden Verbandspäckchen zu, Ostberliner Volksarmisten Räucherkerzen, damit die Fotografen den Bergungsvorgang nicht ablichten. „Mörder, Mörder“ schrien die Demonstranten stundenlang. Mit Steinen wurden einfahrende sowjetische Militärfahrzeuge empfangen. Das Ostberliner Haus an der Friedrichstraße, aus dem der tödliche Schuß fiel, wurde später gesprengt. In den folgenden zwei Jahren mußte an jedem 13. und 17. August die Mauer von Westberliner Polizisten geschützt werden. Der Checkpoint Charlie wurde zum Demonstrationsziel für Abertausende von Berlinern, die nur eines im Sinn hatten: „Die Mauer muß weg“.

Aber das dauerte noch mehr als 25 Jahre, und derweil wurde es still an der Friedrichstraße. Die Mauer mutierte vom Todessymbol zum Gesamtkunstwerk, ein Cafe richtete sich fast in der Sperrzone ein, Architekten enthüllten, daß ein Grenzhaus das „älteste Barockwohnhaus in Berlin“ ist, und stellten es unter Denkmalschutz. Am lebhaftesten ging es noch im Museum Checkpoint Charlie zu. Ganze Legionen von Schulklassen aus dem Bundesgebiet reisten subventioniert in die Halbstadt, erhielten hier Nachhilfeunterricht in Sachen Freiheit. Aber ach, auch das Museum „sozialdemokratisierte“ von Jahr zu Jahr mehr. Richtig laut wurde es am Checkpoint nur noch zweimal. 1986 bretterte ein mit Sand beladener Laster einfach durch alle Sperren, Pferdestärken gewannen gegen Schlagbäume. Und dann, am 9. November, gewannen die Menschen und die 2+4-Verhandler.

Anita Kugler