betr.: Atomtests in der Republik Kasachstan

Als die sowjetische Regierung im März dieses Jahres die Einstellung aller Atomtests in der Republik Kasachstan für 1993 zusagte, hatte sie die Rechnung ohne die Bevölkerung des betroffenen Gebiets gemacht. Wenige Tage vor der jüngsten Reise Gorbatschows zum Gipfelgespräch mit George Bush hatte der Oberste Sowjet Kasachstans mehrheitlich für die unverzügliche Schließung des Testgeländes votiert.

Doch eine Bürgerbewegung hat die Politiker das Fürchten gelehrt. Zu lange schon hatte der Volkszorn im Verborgenen geschwelt. Als im Februar vergangenen Jahres bei zwei unterirdischen Versuchen in der Nähe der Stadt Semipalatinsk, die vor geladenem Publikum den vermeintlich hohen Sicherheitstand demonstrieren sollten, radioaktive Gase in die Atmosphäre drangen, war das Maß voll. 5.000 Menschen versammelten sich in der kasachischen Hauptstadt Alma Ata und verlangten in einer gemeinsamen Erklärung die sofortige Einstellung von Produktion und Test atomarer Waffen in der Sowjetunion. „Wir haben nicht das Recht, den Untergang unserer Welt gefügig abzuwarten.“ In den folgenden Wochen fand das Manifest über eine Million Unterschriften. Die Bürgerbewegung unter Leitung des Schriftstellers Olzhas Suleimanow nahm Kontakt zu Anti-Atomgruppen im US -Bundesstaat Nevada auf, wo die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten Atomtests durchführen, und gab sich den Namen Nevada-Semipalatinsk.

Bis in jüngste Zeit wurden in einer noch bestehenden Geheimklinik in Semipalatinsk, dem sogenannten Dispensarium Nr.3, medizinische Untersuchungen an Strahlenopfern durchgeführt. Die Einrichtung war seinerzeit von Stalins Chef der Geheimpolizei, Lawrentij Berija, eingerichtet worden. Die Bevölkerung des Testgebiets dagegen wurde nicht über die Gefahren informiert und die schweren gesundheitlichen Schäden, die die Lebenserwartung der Bevölkerung unterdessen drastisch gesenkt haben.

Ende Mai hat „Nevada-Semipalatinsk“ zu einem „Internationalen Bürgerkongreß für den Stopp von Atomtests“ nach Alma Ata (siehe Foto) eingeladen. Derzeit hält sich eine vierköpfige Delegation aus Kasachstan zu einer Rundreise in der Bundesrepublik auf: Satimgan Sanbaew, Schriftsteller und Vizepräsident der Bürgerbewegung Nevada -Semipalatinsk, Kalina Kuzembaewa, Geschäftsführerin, Sahariewa Umit, Architektin und Künstlerin, Hafiz Mataev, 1.Sekretär (KPdSU) des Bezirks Abai im Gebiet Semipalatinsk. Mit ihnen ist das hier abgedruckte Interview in West-Berlin gemacht worden.

Ulrich Stewen