Wieder mal nicht reif genug?

■ Veröffentlichen, bevor das Vergangene völlig verdrängt wird

Für mich als ehemalige DDR-Journalistin, ausgereist am 5. Oktober 1989 nach vierjährigem Warten und seit Anfang Januar dieses Jahres in der taz, gab es anfänglich wenig Bedenken gegen eine Veröffentlichung der Stasi-Listen. Respektlosigkeit und Provokation bestimmten von Beginn an das Profil der taz. Ich war es jahrelang gewohnt, in Sprache, Stil und vor allem Wahrheitsgehalt bevormundet zu sein.

Ein Stück DDR-Wahrheit ist es auch, daß es diese Stasi -Listen gibt, und deshalb müssen sie für jedermann einsehbar sein. Die moralischen Bedenken der DDR-Kollegen verstehe ich zwar sehr gut. Aber jahrzehntelang sind die DDR-Bürger „geschont“ worden, weil sie angeblich nicht reif für brisante Informationen waren. Jetzt wiederholt sich diese „Fürsorge“ unter anderen Vorzeichen auf fatale Weise. Natürlich sind die Bedenken, daß die Adressen auch Schmerz und Leid auslösen, gerechtfertigt. Aber die Aufarbeitung dieser Stasi-Zeit wird nicht ohne Tränen zu bewältigen sein. Ich glaube auch nicht, daß diese Listen eine Selbstjustiz unter der DDR-Bevölkerung auslösen. Wie gesittet ist doch der Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße abgelaufen. Sind denn inzwischen Stasi-Leute tätlich angegriffen worden?

Die Listen der Stasi sollen vor allem zeigen, wie breit und dicht das Netz gewebt war: vom Kinderspielplatz bis zum Ferienheim. Jeder hat das Recht, zu wissen, wo sich das abspielte. Die Publikation solcher Listen wäre eigentlich Pflicht der DDR-Medien. Aber die halten sich betont zurück. Dabei gäbe es doch so viel aufzudecken. Warum rennen denn DDR-Bürger immer noch zu den West-Medien und sind denen gegenüber so auskunftsfreudig? Sie trauen ihren Zeitungen nach wie vor wenig zu. Auch das ist ein nachwirkender Effekt jahrelanger journalistischer Schönfärberei. Mögliche Racheakte als Antwort auf die Veröffentlichung der Listen werden sogar noch heftig von der DDR-Presse geschürt, wie Kommentare in der 'Berliner Zeitung‘, der 'Jungen Welt‘ und dem 'ND‘ zeigen. Es mag schwieriger sein, aus neo-westlicher Position über Dinge im noch Nachbarland zu urteilen. Aber es kann auch anders sein: Abstand ernüchtert.

In zwei Wochen wird es keine Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi-Akten mehr geben. Das Vergangene wird dann noch mehr verdrängt, weil das Neue den Alltag bestimmen wird. Die Veröffentlichung der Stasi-Listen zu diesem Zeitpunkt ist wichtig und richtig.

Bärbel Petersen