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Keine große Stunde für die Volkskammer

Daß der Staatsvertrag, der gestern in beiden deutschen Parlamenten verabschiedet wurde, „den schnellstmöglichen Weg zur deutschen Einheit“ eröffnet, wie es der CDU/DA -Fraktionsvorsitzende Krause formulierte, daran mochte in der Aussprache vor der Volkskammer niemand zweifeln. Ob es sich bei dem Vertragswerk und dessen Annahme durch das Übergangsparlament in Berlin jedoch um den „zweiten Akt unserer Revolution“ handelte, wie SPD-Fraktionschef Richard Schröder das Plenum glauben machen wollte, blieb erwartungsgemäß umstritten.

Die Vorgeschichte der am Parlament vorbeibetriebenen Vertragsverhandlungen, die faktische Dominanz der Bundesregierung und nicht zuletzt die geschäftsmäßig -lustlose Debatte in der Volkskammer ließen Assoziationen an einen revolutionären Akt oder an eine historische Stunde gar nicht erst aufkommen. Vielmehr schien es, als sei das Plenum, durch die flüchtige Befassung mit den einzuführenden Gesetzespaketen schon so ausgelaugt, daß die Debatte und Verabschiedung des Haupttextes zur Wirtschafts-, Währungs und Sozialunion sich weder im abgebrühten Stil noch im intellektuellen Niveau von den vorangegangenen unspektakulären Marathonsitzungen unterschied. Historische Stunden sind nicht inszenierbar.

Also erlebten die Zuhörer eine demonstrative Unlust, sich die Einwände der Vertragsgegner auch nur anzuhören ablesbar am Geräuschpegel, der immer dann anschwoll, wenn ein Redner der Opposition am Pult stand -, und das beschwörende Pathos der Worte, die seltsam kontrastierten mit der Unkenntnis dessen, was da im Detail zur Verabschiedung stand. Das spricht weniger gegen die im Einheitspoker vermeintlich agierenden Parlamentarier, sondern gegen den vorsätzlich durch die Regierungen erzeugten Zeitdruck, der eine ernsthafte parlamentarische Behandlung des Vertrages von vornherein unmöglich machte. „Prozesse, die sonst Jahre dauern“, so Gregor Gysi, würden mit dem Staatsvertrag „über Nacht vollzogen.“ Unter dem Motto „keine Experimente“ werde jetzt „das größte wirtschaftspolitische Experiment“ eingeläutet, „das je stattgefunden hat“. Hans-Joachim Tschiche brachte die Instrumentalisierung der Volkskammerabgeordneten im staatsvertraglichen Gesetzgebungsprozeß anschaulich auf den Punkt: „Wenn man am Abend zwei Kilo Steuergesetze aus der Bundesrepublik auf den Tisch bekommt, ist es ausgeschlossen, am nächsten Tag kompetent darüber zu entscheiden.“

Tschiche war es dann auch, der in drastischer Weise den Kontext historischer Verantwortung thematisierte, in dem die Vereinigung der beiden deutschen Staaten steht: „Die Verabschiedung Deutschlands aus der Zivilisation 1933“ und der verpaßte Neuanfang nach 1945. So wurden in der Debatte zumindest die Bedenken noch einmal formuliert, Deutschland könne im Zuge der Einheit als politische und wirtschaftliche Großmacht formieren, „die Europa dominiert“. Tschiche plädierte für eine Interpretation der Vereinigung nicht als Ziel, sondern als Übergang: Er wolle nicht in einem deutschen Vaterland, sondern in Europa ankommen. Deshalb gelte es, trotz der verpaßten Chance, die erste Phase des Einheitsprozesses mitzugestalten und Positionen für eine neu politische Kultur zu entwickeln, die „heute noch nicht mehrheitsfähig sind“.

Matthias Geis

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