Schulzeit als Lebenszeit begreifen

Ein Gesamtschulprojekt im Berliner Friedrichshain will neues Erziehungsdenken verwirklichen / Schule als Lebensraum für den ganzen Tag realisieren / Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor der 10. Oberschule in Friedrichshain, Harald Schmidt  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Schmidt, Ihre Schule bekommt Zuwachs. Eltern lassen ihre Kinder hierher wechseln. Es spricht sich herum, daß Lehrer und Erzieher hier im September ein Gesamtschulprojekt mit neuem pädagogischen Ansatz versuchen wollen. Worum geht es?

Harald Schmidt: In erster Linie geht es darum, sich vom vereinfachten Erziehungsmodell des belehrenden Einwirkens auf die SchülerInnen zu trennen. Jedes Kind ist begabt, in irgendeine Richtung veranlagt. Der Lehrer sollte das nutzen, was im Kind vorhanden ist, das Individuelle herausfordern und ausprägen helfen. Das bedeutet ganz praktisch, die allgemeinen Bildungsrichtlinien auf die konkreten Bedingungen in den Klassen und auf das Wesen jedes einzelnen abzustimmen.

Die Veranlagung jedes Kindes zu erkennen, sich in Temperamentsbesonderheiten, Neigungen und Interessen der SchülerInnen einzufühlen und ihnen klug zu begegnen, erfordert ausgeprägte psychologische Kenntnis. Ich bezweifle, daß der Großteil der LehrerInnen darüber verfügt. Die psychologische Befähigung blieb in der Lehrerbildung bisher arg vernachlässigt.

Eben weil wir hier an Grenzen stießen, kam es ja zu den Auseinandersetzungen um ein neues Konzept. Fachleute von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften beraten uns und werden auch das Projekt betreuen. Das befreit jeden einzelnen Lehrer allerdings nicht davon, sich selbst weiterzubilden. Die LehrerInnen hier an unserer Schule nehmen mit, was sich ihnen an Fortbildungsveranstaltungen etwa im Haus des Lehrers oder in West-Berlin bietet.

Ich finde es beachtenswert, daß Sie jedem Kind die Chance geben wollen, sich auf einem Gebiet besonders zu profilieren, selbst wenn es sich um ein langsam lernendes Kind handelt. Durch die Einführung von Leistungsklassen wird dies, meine ich, in vielen Schulen verhindert.

Wir wollen grundsätzlich gemischte Klassen von lernschwachen und lernstarken SchülerInnen. Die Kinder sollen miteinander so lernen, daß die Schwachen die notwendige Stützung und die Starken gezielte Förderung erhalten. In gemeinsamer Arbeit an größeren Aufgaben kann sich jeder so stark einbringen, wie es ihm möglich ist. Die Kinder sollen sich dabei gegenseitig anregen und anspornen. Der Lehrer greift nur regulierend ein, indem er unterschiedlich schwierige Aufgaben stellt und so dafür sorgt, daß jede SchülerIn Erfolg erleben kann.

Ich denke, eine frühzeitige Trennung von Starken und Schwachen verhindert diese Art von kameradschaftlichem, solidarischem Arbeiten und nimmt einigen SchülerInnen die Möglichkeit, eigene Begabungen zu erkennen und zu entfalten.

Aus diesem Grund wird es an Ihrer Schule auch keinen Übergang zum Gymnasium beziehungsweise zur EOS schon nach der 6.Klasse geben, so wie es an den meisten BRD-Schulen üblich ist?

Unsere SchülerInnen sollen frühestens nach der 8. Klasse in die Abiturstufe wechseln. Viele brauchen die Zeit bis zum 14. Lebensjahr, um ihre Fähigkeiten zu erkennen und die eigene Leistungsstärke beurteilen zu können. Sie wissen dann schon genauer, was sie sich zutrauen und in welche Richtung sie sich besonders bilden wollen.

Eines der törichsten Ziele unseres bisherigen Erziehungssystems war es, die Heranwachsenden in ihrer Schulzeit auf das Leben vorzubereiten. Was auch immer Pädagogen unter dem Leben verstanden, sie sahen Kindheit selbst wohl nicht als Lebenszeit. Was wird Ihre Schule leisten, um Schulzeit als ein bewußtes Stück Lebenszeit zu gestalten?

Stellen Sie sich vor, in welcher sozialen Situation unsere SchülerInnen hier im Friedrichshain leben. In unserem Viertel gibt es kaum einen Spielplatz, zu wenige Jugendklubs, überall liegen Bauschutt und Dreck, eine unfreundliche Gegend. Am Nachmittag sind die Kinder meist allein zu Hause, beinahe alle Eltern sind berufstätig, 40 Prozent der Kinder leben nur bei Mutter oder Vater. All das brachte uns dazu, unsere Schule künftig ganztags zu öffnen. Wir bieten eine Reihe von fakultativen Kursen und Arbeitsgemeinschaften. Hortner und Freizeitpädagogen sollen den Kindern Spielgefährten und Diskussionspartner sein. Die älteren SchülerInnen können sich in der Schule treffen, Musik hören, reden. Auch den politischen Gruppen und Bürgerbewegungen stehen unsere Räume offen. Wir wollen so etwas wie ein geistiges Zentrum hier im Wohngebiet sein.

Was halten Sie davon, in der Schule aktiv Lebenshilfe zu leisten? Kinder haben in ihrem Alltag schon eine Vielzahl von Konflikten zu bewältigen. Alleingelassen mit ihren Problemen und Ängsten, können bei ihnen psychische Störungen auftreten, die ihre Leistungsfähigkeit und ihr Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen.

Es hängt natürlich vom Lehrer ab, ob es ihm gelingt, mit seinem Wissen, seiner Haltung bei den SchülerInnen so viel Vertrauen zu wecken, daß sie sich mit ihren Sorgen an ihn wenden. Und dann ist es immer noch fraglich, ob der Lehrer tatsächlich Hilfe leisten kann. Oft sind Lehrer selbst nicht in der Lage, Konflikte auszutragen. Ich halte es für sehr wichtig, daß die ErzieherInnen möglichst schnell die notwendigen psychologischen Fähigkeiten erwerben, um den Kindern dabei helfen zu können, den Umgang mit sich selbst und anderen Menschen zu erlernen.

In der pädagogischen Diskussion gibt es Überlegungen, ein Fach mit dem etwas seltsamen Namen „Gestaltung meines persönlichen Lebens“ einzuführen. Darin soll es vor allem um Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen gehen, um Freundschaft, Liebe, Familienleben, das Verhältnis zu kranken und behinderten Menschen, zu Geburt und Tod. Wird es bei Ihnen solch ein Fach geben?

Im Moment fehlen uns dafür noch die geeigneten Leute. Wir hoffen da auf die Freizeit- und Sozialpädagogen, die ja jetzt verstärkt ausgebildet werden. Andererseits haben wir vor, solche Themen vor allem in den musischen Fächern, Literatur, Kunsterziehung, Musik, angeregt durch Kunstwerke zu diskutieren. Auch ein religionsgeschichtlicher Kurs, den wir auf Wunsch vieler Eltern anbieten werden, ermöglicht uns das Gespräch zu diesen Problemen.

Ich denke, die Diskussion solcher ethisch-moralischer Fragen ist für die Aneignung von Gewissen und den Aufbau eines individuell verbindlichen Wertesystems unerläßlich. Geht man davon aus, daß Erziehung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Anforderungen bestimmt wird, stellt sich jedoch die Frage, auf welche Weise die SchülerInnen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchsituation zu sozialer Kompetenz befähigt werden.

Für uns ist es das wichtigste, jetzt, nach dem Ende der Bevormundung und geistigen Einseitigkeit, den Kindern endlich die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu entscheiden, eigene Gedanken und Meinungen zu entwickeln. Wir wollen den SchülerInnen die dafür notwenigen Kenntnisse und Informationen vermitteln und sie zum Nachdenken provozieren. Werden wir danach gefragt, sagen wir auch gern unsere eigene Meinung. Unsere Erfahrungen zeigen, daß die Schüler daran sehr interessiert sind. Ich denke, das Bewußtwerden und Artikulieren der eigenen Meinung ist eine wesentliche Voraussetzung für demokratisches Denken und Handeln. Auch das sehen wir als einen wichtigen erzieherischen Auftrag, die Befähigung der SchülerInnen zu Demokratie. So können die Schüler jetzt zum Beispiel über ihre gewählten Interessenvertreter in allen schulischen Angelegenheiten mitreden und mitbestimmen.

Das Gespräch führte Antje Horn