Ein Briefträger und sein Maler

Van Gogh, in einem seiner Modelle gespiegelt / Eine fiktive Biografie im Van-Gogh-Jahr  ■  Hier bitte

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Zwei verschlug es im Jahre 1888 nach Arles, in den Süden Frankreichs, wo das Geld weniger rar, die Frauen umgänglicher und die Himmel ausschweifend waren: Der eine, 35-jährig, von zarter seelischer Gesundheit, Maler,

kurz vor der Preisexplosion seiner Bilder, trank gern, liebte die Frauen und das Sonnengelb Chrom Nr.3, trennte sich von einem Ohr, um es einer Hure zu bringen und bewohnte ein gelbes Haus in Arles. Sein Name: Vincent van Gogh.

Der andere, 47, von schlichtem Gemüt, Republikaner insbesondere nach hartem Absinthgebrauch, war Postbediensteter in Arles und hieß Joseph Roulin. Sein Äußeres glaubt man zu kennen, weil van Gogh ihn mehrfach porträtierte, in preußischblauer Uniform mit Mütze, am Kinn einen rötlichen Rauschebart, vor einer Tapete aus grünorangenem Blumenmuster.

Die Lebensgeschichten beider überschnitten und verknäuelten sich kurz; van Gogh, nach Irrenzellen in Saint Remy und Auvers, hat sich 1890 gierig mit Blei gefüllt; Roulin verzog nach Marseille, und das Porträt des Postmanns, ein Geschenk van Goghs, wurde ihm von einem tüchtigen Kunsthändler abgeschwatzt.

Pierre Michon (45), der 1984 mit „Vies miniscules“ bei Gallimard debutierte und zu den avancierteren der neuen Schriftsteller Frankreichs gehört, schrieb 1988 mit „Vie de Joseph Roulin“ eine fiktive Biographie des weltbekannten unbekannten „Briefträgers“ und fand so eine delikate Form, sich dem weltbekannten Maler zu nähern. Zum Van-Gogh-Jahr gibt der Bremer Manholt-Verlag das Buch in deutscher Übersetzung (Joachim Klink) heraus. Pierre Michon benutzt Briefe von und an van Gogh, kleine Hinweise in den Bildern, eigene Ortskenntnisse und vor allem eine wuchernde Phantasie und Imagination, um Joseph Roulin mit einem Leben auszustatten, in dem sich das Leben van Goghs ausschnittweise spiegeln läßt.

Über die fiktionale Arbeitsweise kommt kein Zweifel auf: „Vielleicht war es in einer Kneipe, genauer ge

sagt im Cafe de la Gare, an der Place Lamartine, bei Mutter Ginoux, der schönen Wirtin, die man auf den Gemälden sieht mit Spitzenhäubchen und schwarzem Schal ...“, wo sich die beiden zuerst begegneten. Auf jeden Fall war es nahe der Brücke von Langlois, oder auf dem Postamt, wo Vincent Bilder aufgab an seinen Bruder Theodore? Immerhin saßen sie fortan in Spelunken von Arles und soffen Absinth, oder Roulin ließ sich in der Küche konterfeien, oder er begleitete den (wie alle Künstler) etwas seltsamen van Gogh in die Korn-und Melonenfelder, wo dieser Sonnen explodieren ließ.

Das Buch kreist aber nicht nur um den Star. Bisweilen verliert/verliebt sich Michon in seine Kunstfigur, stattet den Unbedarften mit einer zweiten Bewußt

seinsschicht aus, wo wilde und edle Gefühle sich tummeln, wo der Traum von der Revolution weiterlebt und die Kunst nicht mehr so fern, sondern innen ist.

Pierre Michon zu lesen ist schon für sich ein Genuß. Man ahnt durch die Übersetzung hindurch den Rhythmus der französischen Sprache, Musik, wenn Michon sich auf die Höhe seiner Assoziationen hebt. Trotzdem kracht es bisweilen hölzern, etwa wenn „dies Skandieren ... in die große Amtsjacke schlüpft“: Dann sehnt man sich nach dem Original, in das sich solche Stellen sicher buttrig einfügen, und beneidet den Übersetzter nicht.

Bu

Pierre Michon: Das Leben des Joseph Roulin; Manholt Verlag Bremen, 20 DM