BUCHHALTERIN DER ZEIT

■ Hanne Darboven in der Galerie Nikolaus Sonne und in der Nationalgalerie

Den Fluß der Zeit durch den Fluß der Tinte mit einer täglich zu Papier gebrachten Linie zu begleiten und zu dokumentieren, bildet die Basis der Arbeit von Hanne Darboven in ihren Zyklen der achtziger Jahre. Für jeden Tag füllt sie ein weißes und liniertes Schriftfeld in einem rotumrandeten Formular mit wortlosen Schreibbewegungen. Eingeklebte Fotos, Postkarten, Stempel skandieren den regelmäßigen Rhythmus der Zeilen.

Die Zyklen Milieu 80, Posthum (Nationalgalerie) und Kurt Schwitters (bei Nikolaus Sonne) entstanden beide 1987, im Jahr des hundertsten Geburtstages des Dadaisten. Andere Werkgruppen waren Rainer Fassbinder oder den Frauen Marie Curie, Rosa Luxemburg, Gertrude Stein und Virginia Woolf gewidmet. Mit den Widmungen und bloßen Namensnennungen auf den beschriebenen Blättern behauptet Hanne Darboven interpretatorische Kontexte ihrer wortlosen Texte, ohne sich auf eine Diskussion der Bedeutung der Zitierten einzulassen. Doch deren Geburts- und Sterbedaten nimmt sie zum Anlaß einer Verschränkung der Zeitebenen und setzt sie als Fixpunkte ihrer Zeitrechnung ein.

Um das unermeßliche Kontinuum der Zeit zu gliedern und in überschaubare Abschnitte zu ordnen, versehen wir jeden Tag mit einem Datum. Die Einteilung in Jahre und Monate bindet unsere Wahrnehmung von Zeit zugleich in den Rhythmus der Gestirne ein. Unsere Zeitrechnung ist die eines kleinen Planeten in irgendeinem der vielen Sonnensysteme. Darboven benutzt die tägliche Datierung als Ausgangsmaterial einer unendlich fortsetzbaren Produktion. Wer einmal beginnt zu zählen, kann nie an das Ende der Zahlen kommen. Die Wellen -Schreiberin interpretiert die Daten als Rechenmaterial, das sie nach einem bestimmten Schlüssel mathematischen Operationen unterzieht oder, wie im „Schwitters-Zyklus“, in eine eigene Notenschrift umsetzt. Die Erfassung jedes Tages negiert eine Dramaturgie der Geschichte, die Höhepunkte und Ereignisse zu einer linearen Entwicklung verketten.

Dieser nüchterne Umgang mit den Zahlen hat nichts mit einer astrologischen Interpretation von Daten gemeinsam. Jede zufällige Zahlenkombination kann vielmehr als kodierte Spielanleitung gelesen werden, aus der es nur noch die Regel zu extrahieren gilt. Die Findung einer Lesart, die eine Bewegung in die Unendlichkeit oder ins Nichts auslösen kann, und deren stringente Ausführung werden zum Rezept einer ästhetischen Produktion.

Ein Blatt für jeden Tag. Schreibzeit fällt mit Lebenszeit zusammen, die wellige Linie erscheint als konkrete Spur. Dennoch birgt auch dieses strenge Konzept die Möglichkeit der Fiktion. In der Form des Tag für Tag beschriebenen Kalenderblattes scheint sich der Jahresablauf konkret niederzuschlagen, unabhängig davon, in welchem Zeitraum die Blätter wirklich produziert wurden.

Mit Kurt Schwitters verbindet die Konzept-Künstlerin die Technik der Montage und die Setzung von Zusammenhängen. Berührungspunkte zeigen sich auch in ihren Methoden, den Zufall produktiv zu nutzen. Kurt Schwitters taucht auf Darbovens Blättern im Schwitters-Zyklus nur in der Briefmarke auf der täglich eingeklebten Postkarte auf. Damit benutzt sie die Verkürzungen der offiziellen Kultur, die öffentlicher Wertschätzung und Anerkennung eines Künstlers im Druck einer Briefmarke Ausdruck gibt und sich auf die unendliche Vervielfältigung des Namens und seiner Verbreitung durch die Post beschränkt. Postalischer Verkehr vertritt die Kommunikation über Kunst. Darboven selbst macht aus ihrem Namen einen Stempel mit Namen, Adresse in Hamburg und Telefonnummer, den sie jedem Blatt als Signatur aufdrückt. Mehr läßt die gesellschaftliche Vereinnahmung der Künstler am Ende doch nicht von einem Individuum übrig.

Ihre Schreibtechniken verweigern den persönlichen Ausdruck. Sie beweist sich zwar noch als schreibendes Subjekt, doch ohne sich preiszugeben. Keine Spannungszustände oder subjektven Notate wie in den Schriftbildern Cy Twomblys schwingen mit. Kontinuierliche Diziplin, Ausführung eines Planes rückt an die Stelle von Expressivität und Authentizität. Sie entleert die Handschrift von jeglicher Individualität. Konsequent enthält sich ihr Null-Text jeder Interpretation der Künstler und historischen Figuren, denen ihre Kalender gewidmet sind. Übrig bleibt allein die Faktizität des Schreibens und des Produktionszeitraums.

Ein Bild von der Künstlerin als Verwalterin nimmt Konturen an: auf dem Schreibtisch liegen sorgfältig getrennt die beschriebenen und die leeren Tagesformulare, die Postkarten, Briefmarken, Fotos. Die Stapel werden diszipliniert abgetragen; das Ausmaß der noch zu bewältigenden und schon getanen Arbeit steht unter ständiger Kontrolle. Nicht mehr Erleben und Erfahrung werden zum Grund von Kreativität, sondern die Organisation ihrer Verarbeitung. Leben wird zum Gegenstand der Ablage. Gedächtnis und Erinnerung funktionieren als Datenspeicher.

In ihrer Strenge, Wiederholung, Monotonie, Sterilität und Anonymität erscheinen Darbovens Arbeiten als ein Akt der Verweigerung visueller Erlebnisbereicherung, wie sie die Kunst immer wieder zu versprechen scheint. Verglichen mit der Malerei der achtziger Jahre verabreicht die Konzeptkünstlerin dem Bilderhungrigen bloß trocken Brot. Aktenordner, Arbeitsanweisungen, Briefe, Landkarten, Lexikas, Tabellen, Statistiken und Zahlen: seit den sechziger Jahren ahmen die Konzeptkünstler mit diesen stereotypen Erscheinungsformen den Zugriff des Wissenschaftlers und Beamten auf seinen Gegenstand nach. Ihr Realismus liegt in der Angleichung der künstlerischen Produktion an die realen Arbeitsplätze der Datenverarbeitung. Gegen deren Normierungen nehmen sich ihre Regeln als willkürliches und freies Spiel aus; als subjektive Aneignung einer Technik, die jede Information erst in Zahlen übersetzen muß. Die andauernde Veränderung der Informations- und Kommunikationstechnologien und ihr Übergriff in alle gesellschaftlichen Bereiche läßt sie als Gegenstand und Darstellungsmittel der Konzeptkunst noch immer virulent erscheinen.

Katrin Bettina Müller

Hanne Darboven: „Kurt Schwitters“ in der Galerie Nikolaus Sonne, bis 14. Juli; „Milieu 80, Posthum“ in der Sammlung der Nationalgalerie, bis Ende August.