„SOWAS VON TOLL“

■ Die Ballordnung in ihrer Wechselwirkung auf die physische und psychische Gestimmtheit des Mannes

„Bei den Gesprächen kaum etwas über Weltpolitik. Es werden behandelt Probleme im Zusammenhang mit fachlicher Arbeit, Lohnfragen, Verbesserungen des Arbeitsmilieus. Dann kommt man immer wieder auf Sport. Vor allem Fußball.

Fußball verdummend. Ablenkend vom politischen Kampf.“ (Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980, 2. Band)

Der Fußball bringt Ordnung in mein dahingleitendes Leben. Vier Jahre sind wieder vorbei. Vor vier Jahren war ich verliebt und schaute zusammen mit der Schönsten. Sie hatte keinen Fernseher, aber einen Hausantennenanschluß; ich hatte einen Fernseher, doch nur schlechten Empfang. Wir schleppten den Fernseher von mir zu ihr. Und saßen dann nebeneinander auf dem Bett. Der französische Torhüter war Dichter, der wußte, wie schön es ist, unglücklich verliebt zu sein. Melancholisch erinnerte ich mich an die WM zuvor, ans gleiche Spiel. In Würzburg war ich als einziger für uns. Man bezichtigte mich des Nationalismus. Ein Freund war unglücklich verliebt und interessierte sich für nichts und guckte nur blöd, als Klaus Fischer zum Fallrückzieher ansetzte.

Vor acht Jahren waren wir meist nur zu zweit und einsam und schütteten uns mit Aldi-Bier voll. Die Eltern hatten sich einen Farbfernseher gekauft. Vor zwölf Jahren, auf Klassenfahrt, war Berti Vogts der Supertrottel; H.D. hörte Jazzrock. Und vor 16 Jahren fing meine Fußball -Lebenschronologie an, als die DDR uns sauber putzte in Hamburg. Vor 20 Jahren spielten wir zu zweit im Garten der Nachbarn: Du Pele, ich Gert Müller.“

Verträumt blickt der Redende. Nun ist Ulrich G. Bildhauer und hat ein Atelier am Mehringdamm. „Das kam so“, sagt er und blickt wieder zum Bildschirm und redet nicht weiter und meint wohl, daß es halt irgendwie schicksalhaft über ihn kam. Nachdem er vor zwei Wochen eine Plastik verkauft hatte, kaufte er sich sich einen 80-cm-Farbfernseher. Der ist umwickelt mit englischen Fußballschals und -fahnen. Zwölf Männerfreunde kommen jeden Tag, ihm beim Gucken zu helfen. Nur einmal war eine Frau dabei, die aber schnell wieder ging.

Ewig lustvolle Wiederkehr

Sitzend auf der imaginären Trainerbank, kontrollieren Männeraugen das Geschehen. Münder rufen enthemmt. Canigga, das Kaninchen, argentinischer Mittelstürmer, sieht aus wie Jürgen Marcus (Ein Bett im Kornfeld). In zwei Spielen hat er es geschafft, seine jeweiligen Gegenspieler durch versteckte Fouls so zu reizen, daß sie irgendwann eher schüchtern zurücktraten und vom Platz flogen. Begeistert wird das Kaninchen beschimpft. Wenn sich ein Spieler, egal ob Freund, ob Feind, verletzt, dann fallen wir in kreischendes Gelächter; das gleiche geschieht, wenn ein Spieler den Ball in die Wolken statt ins Tor schießt. Auch die Gestik des Schiedsrichters ist zum Totlachen. „Gegen zehn Spieler ist schwerer zu spielen als gegen elf“, wiederholt einer immer wieder und wieder. Ewig lustvolle Wiederkehr des gleichen; begeisternde Regression, die sich auch in den Weltworten finden, die als einzige dem Mund des blonden Dichters unaufhörlich entgehen: „Schön ... Und jetzt ein Tor!“ Den jubelnden Torschrei kann jeder.

Geheimnisvolle Informationen machen in der Pause die Runde. Einer berichtet, daß Erich Beer, in der Nationalmannschaft der späten siebziger Jahre äußerst glückloser Mittelfeldstar von Hertha BSC, der uneheliche Sohn von Helmut Schön sei und deshalb in die Nationalmannschaft gekommen wäre. Jupp Derwall wußte davon; um Schön nicht zu verletzen, hätte „Häuptling Silberlocke“ Erich Beer weiter eingesetzt. Beim Kamerunspiel erinnert sich jemand an den rassistischen Kampfruf der OFC-Gegner: „Zehn Schwule und 'n Nigger/ das sind die Offenbacher Kigger.“ Erwin Kostedde machte es dann auch nicht lange in der Nationalmannschaft.

Doch beim Fußball geht es in erster Linie um Geld, viel Geld. Bei Ulrich G. wird auf Ergebnis getippt. Der Mindesttipeinsatz beträgt zwei DM. Stimmt keiner der Tips, akkumuliert Kapital. Mehrere hundert DM waren irgendwann im „Jackpot“. Ekelhafterweise tippte dann jemand gerade das Deutschlandspiel richtig.

Zwei Stuhlreihen sind aufgebaut. Pro Spiel raucht jeder vier Zigaretten und trinkt zwei Liter Bier. Manchmal wird „la ola“, die Welle, versucht. Nacheinander springen alle auf. Manchmal klingelt das Telefon. Nach einer Woche Fußballgucken bemerke ich flimmernde Ränder in meinem Blickfeld.

Träumerische Niederlagen

Bei Jürgen F., Objektkünstler, Freizeitpsychobilly, in einer Parterrewohnung in der Goebenstraße, starren selten weniger als zehn „Jungens“, wie sich Männer unter 35 gerne nennen, gebannt auf den Bildschirm. Die Antenne taugt nichts, so muß man sich mit dem DDR-Programm begnügen. Scheußlich, weil im DFF immer die Ergebnisse der parallel laufenden Spiele eingeblendet werden. Allerdings erst, nachdem ein Gong gewarnt hatte. Dann springt einer auf und stellt sich mit dem Rücken vor das TV, um die Spannungsstörung zu verhindern. In der Halbzeit gibt's das „Ford Halbzeitstudio“ - Jürgen Sparwasser, der uns 1974 in Hamburg das entscheidende Tor reinhaute, führt als fröhlich vertrauenserweckender Mittvierziger DDR-Normalo durch die Wunder weltweit führender Automobile und verabschiedet sich mit einem Ball, den er durch eine Tür oberhalb einer Showtreppe wirft. Studiogäste, wie der Trainer vom FC Karl -Marx-Stadt, jetzt FC Chemnitz, der sich beim Gewinnpostkartenziehen am Finger verletzt, dem aufgeregte Schweißperlen übers Gesicht laufen, erregen Lachstürme. Zwei kiffen, was das Zeug hält. Die anderen werfen mit Bierdosen auf den mit einer Plexiglasscheibe geschützten Fernseher. Die Stimmung ist großartig bis die Sowjets gegen Argentinien verlieren. Einer hat dann bis in den Vormittag hinein getrunken. Tränen laufen über sein Gesicht. Freunde bauen ihn wieder auf. Jetzt geht's ihm schon besser.

In jeder Kneipe schauen Fernseher dich freundlich an. Auch draußen eilen Männer auf riesigen Videoleinwänden dem Ball, dem Leben hinterher. Neben dem Palast der Republik sammelt sich ein Menschenauflauf, und neben dem „Osteria“ in der Kreuzbergstraße ist ein Zelt aufgestellt. Dort sitzen auch ein paar Frauen. „Nicht schlecht“, ist der stets gleiche Kommentar des bärtigen Nebenmannes. Hoch schlagen die Wogen der Begeisterung wenn die Italiener spielen. Ergebniswette: 20 DM. In der ersten Reihe kiffen zwei. Bei Horst, Politologiestudent, der für dieses Halbjahr ein Urlaubssemester beantragt hat, im roten Wedding, überlegt man, den Jackpot zum nächsten Kolumbienspiel in Drogen umzusetzen. Niemand weiß, wo man jetzt noch kolumbianisches Gras herkriegen kann. Wer kann Horst helfen?

Innere Kämpfe

In der taz denkt man deutsch: Nur die BRD-Spiele werden getippt - zwei DM. Kein Fernseher lädt nirgends zum Verweilen ein. Jeder ist öffentlich verärgert und heimlich erfreut, wenn unsre Jungs gewinnen. Ein paar Italiener gucken im italienischen WM Studio & Imbiß in der Kurfürstenstraße, zwischen Pornobars, in denen Fußballerbeine die potentiellen Freier auf Tour bringen sollen. Im Sexkaufhaus kann man sich zwischen 64 Spielen entscheiden.

In der Redaktion beschwert sich ein Offtheaterschauspieler, daß man nicht zu seiner Vorstellung kommt, die sinnigerweise zur Anstoßzeit, um 21 Uhr beginnt: „Wenn dir das Fernsehen wichtiger ist, als lebendige Kultur...“ - „Ist mir nicht, aber, du mußt doch verstehen ...“ Auch die „linksradikale“ Höhnende Wochenschau höhnt weiterhin im Eiszeitkino ab 21.30 Uhr. Nur ein kleiner Fernseher tröstet den dünnen Mann an der Theke, der sich lieber auf Videoleinwand die Spiele „reingezogen“ hätte.

Die Zeichen der Zeit sind in der Villa Kreuzberg und in der Freien Volksbühne erkannt. In der Kreuzbergstraße zeigt man alles. Das Wettsystem ist kompliziert und gerecht: Zehn DM Einsatz; Gewinner ist der, der die höchste Trefferquote in allen Vorrundenspielen zu verzeichnen hat. Nach der Vorrunde wird ein Tischfußballturnier veranstaltet, die Spiele werden auf Großbildleinwand gezeigt und am 30. Juni, am 1. und 8. Juli bringt eine Kabarettgruppe aus dem „Haus des Lehrers“ in Ost-Berlin „Fußballmäßiges“ auf die Bühne.

Eine der ersten Amtshandlungen von Herrn Treusch, Intendant der Freien Volksbühne, war, die Vorstellungen vorzuverlegen und Zuschauer und Schauspieler nach dem Schauspiel zum Gucken einzuladen. Einige Schilder führen den Fußballinteressierten durch finstere Gänge zur Theaterkantine. Die Vereinigten arabischen Emirate spielen dort. Gegen uns. Schön ist die Kantine und sachlich. Wie jede Kantine. An einer Wand hängen SchauspielerInnenphotos.

Umarmung nach der Halbzeit

Zwei DM wettet man auf Ergebnis oder darauf, wieviel Hooligans heute eingesackt werden. Das beste Bier kostet 1,60 DM. Nach zehn Bier hat man sich die Eintrittskarte erspart. Am Rande sitzen zwei Frauen, ins Gespräch vertieft. Herbert G., der zweite Zuschauer, der seinen Weg bis hierher fand, Ex-DDRler, jetzt Schauspielschüler, der zum Publikumsgespräch nach der Vorstellung noch dageblieben war, ist um Gespräche bemüht. Lange dauert es, bis er versteht, daß auch Fußball etwas mit Kultur zu tun hat und keiner Lust hat zu reden.

Als es nach zwanzig Minuten noch 0:0 steht, ruft Treusch: „Die Ausländer machen sich lustig über uns.“ Dann fällt auch das erste Tor. Jürgen Spengler, schwergewichtiger Marat -Interpret, der kurz zuvor noch in „seiner“ Rolle brillierte, brilliert als Kantinenschauspieler. Nicht weniger lautstark als auf der Bühne. „Eigentlich“ guckt er zwar lieber Softpornos als Fußball, doch Fußball mag er auch ganz gern. Weil die Araber so schön aussehen. Er findet es „sowas von toll“, daß „der Herrmann“ die Vorstellungen vorverlegt hat.

Nach der Halbzeit geht der sympathische Intendant und umarmt alle. Das ist so üblich im Theaterbetrieb. Vor vier Jahren hatte er schon einmal ein Theater geleitet. „Da haben wir den Spielplan um die Spiele herum aufgebaut. Und am 30. Juni, zum Viertelfinalspiel, wird sich auch hier alles um den Fußball drehen.“ Handkes Angst des Tormanns vorm Elfmeter trifft dann auf Matthias Beltz‘ Fußballkabarett.

Der Schauspieler- und Bühnenarbeitertisch brüllt im Chor „Mubarak, Mubarak“ nachdem diesem der Anschlußtreffer gelungen ist. Verloren haben sie trotzdem. Und der Dumme ist sowieso wieder die Frau. Wenn Männer alle vier Jahre ihre Regel bekommen, stellen sie sich vor, ihr Leben geregelt zu kriegen.

D. Kuhlbrodt