Dreizehn Neuköllner Sprachgenies

■ Ein Besuch in Berlins einzigem Kinderladen, in dem ständig Deutsch und Kurdisch gesprochen wird / „Helin“ betreut Kinder aus Hongkong, Pankow, Syrien, Wedding... / So langsam entdeckt auch das offizielle Berlin die kurdische Nation

Neukölln. Die Silberstein-/Ecke Karl-Marx-Straße ist nicht gerade eine kinderfreundliche Gegend. Die Abgasschwaden lassen auf eine autogerechte Verkehrsplanung schließen. Am dicksten ist die Luft 80 oder 90 Zentimeter über dem Boden genau auf Nasenhöhe von Jenny, Alice, Heval, Onur, Zelal aus dem Kinderladen „Helin“. Der nächstgelegene Spielplatz ist zu klein und nach eingehender Prüfung durch Hussein, dem Erzieher, für zu dreckig befunden. Den kargen Sandhaufen jeden Tag erst einmal von Scherben und Bierdosen zu befreien, lohnt nicht. Da steigen sie lieber in den Bus oder in die U-Bahn und fahren in eines der Kinderreservate - in den Zoo oder zum ehemaligen Buga-Gelände nach Rudow.

Auf den ersten Blick toben bei „Herlin“ dreizehn Berliner Gören wie in jedem anderen Kinderladen auch. Dreizehn weniger auf der Warteliste, die in Neukölln mittlerweile 5.000 Kinder umfaßt. Auf den zweiten Blick ist „Herlin“ eine kleine Sensation, denn hier wird Deutsch und Kurdisch gesprochen. Dreizehn kleine Sprachgenies wachsen hier heran

-Xezal, zwei Jahre alt, zum Beispiel, die zu Hause vom Vater kurdisch, von der Mutter türkisch erzogen wird. Im Kinderladen lernt sie noch Deutsch. „Sie wird das schon auseinanderhalten“, sagt die Mutter und wischt ihr die Cornflake-Reste von der Backe. Neben Xezal drückt sich die vierjährige Rozan an ihren Vater, der „zur Eingewöhnung“ immer ein paar Stunden länger bleibt. Rozan spricht kurdisch - der Versuch, sie in einer anderen Kita unterzubringen, endete jeden Morgen in Tränen. Jetzt, bei „Helin“ wird es wohl klappen - zumindest eine der Sprachen ist ihr vertraut. Alisa und Jenny, die beiden Youngsters aus Hongkong, können ihre chinesischen Kinderlieder schon mit ein paar Brocken Kurdisch und Deutsch vermischen. Und für Colin aus der DDR, der gerade auf dem Tisch herumspaziert, hat die Sprachenvielfalt nach vier Jahren täglicher Schulung in einem Ostberliner Kindergarten offenbar befreiende Wirkung gehabt. „Der sitzt jetzt längst nicht mehr artig und still herum, wie am Anfang“, stellt Hussein befriedigt fest.

„Helin“ ist die erste und bisher einzige deutsch-kurdische Einrichtung in West-Berlin und der Bundesrepublik. Vergleichbare Projekte gibt es bislang nur in Schweden dort allerdings zu Bedingungen, von denen die „Helin„ -GründerInnen nur träumen können. In Schweden erhalten kurdische Kinder seit Jahren an den Schulen Unterricht in ihrer Muttersprache; in Kinderläden wachsen sie zweisprachig auf. Lehr-und Lernmittel in kurdischer Sprache sind vorhanden - egal ob Geschichtsbücher oder „Pippi Langstrumpf“. Die BerlinerInnen dagegen müssen sich erst einmal an die mühsame Übersetzungsarbeit machen.

„Avsar“ („Bergtürke“) haben seine kurdischen Freunde in der Türkei ihn spöttisch genannt, weil „ich kein Kurdisch sprechen, höchstens verstehen konnte“. Wer sich in der Schule kurdisch unterhielt, riskierte Prügel. Der Grundschullehrer kontrollierte sogar bei seinen Eltern zu Hause, daß Türkisch geredet wurde. Kurdische Literatur war und ist verboten, den Männern wurde der letzte Rest der eigenen Sprache beim Militär ausgetrieben. Von der Paranoia der Zensoren bleibt nicht einmal Karl May verschont. „Winnetou“ und „Old Surehand“ sind auf türkisch zu haben, Karl Mays „Durchs wilde Kurdistan“ fehlt in den Bücherregalen. 1979 floh Hussein - gerade achtzehn Jahre alt - nach West-Berlin, stellte Antrag auf politisches Asyl und wurde anerkannt. Für die Ausbildung zum Erzieher sorgte der Staat, Kurdisch hat er sich selbst beigebracht.

Damit die Sprachkenntnisse der Kinder in der Grundschule nicht wieder verschüttet werden, bemüht sich der kurdische Kultur- und Hilfsverein, Hauptinitiator des Kinderladens, seit Jahren auch um kurdisch-deutsche Erziehung an den Berliner Schulen. Noch 1986 biß der Verein mit diesem Anliegen bei der Schulverwaltung auf Granit. Die damalige Senatorin, Hanna-Renata Laurien, fühlte sich bemüßigt, Vertreter des Vereins darüber aufzuklären, daß „die Kurden in der Türkei nur ein Volksstamm neben anderen“ seien. Für kurdischen Sprachunterricht sah sie keine Veranlassung.

Inzwischen hat man auf offizieller Seite dazugelernt. Zur Eröffnung des kurdischen Kinderladens war die Ausländerbeauftragte Barbara John mit einem „Grußwort an die kurdischen MitbürgerInnen“ vertreten. Aus der Schulverwaltung kommen dank des Senatorinnenwechsels andere Signale. Mit der Möglichkeit zweisprachiger Erziehung befaßt sich seit Monaten eine Kommission im Hause Volkholz. Im Vordergrund stehen zwar Türkisch-Deutsch und Arabisch -Deutsch. Doch die E.O.-Plauen-Grundschule in Kreuzberg wird ab Herbst eine AG für all diejenigen anbieten, die neben deutsch auch kurdisch erzogen werden sollen. Die Hector -Peterson-Oberschule in Kreuzberg hat Interesse für Kurdisch -Unterricht für die höheren Jahrgänge signalisiert; der Schulsenat will die Situation kurdischer SchülerInnen zum Thema von Fortbildungskursen machen. Nur beim türkischen Generalkonsulat, sagt Hussein, „da ändert sich nichts“. Seine Schwester wollte vor wenigen Tagen den Namen ihres neugeborenen Sohnes registrieren lassen. „Bawer“ soll er heißen, was auf Kurdisch „Hoffnung“ bedeutet. „Den Namen gibt es nicht“, erklärte der Konsularbeamte.

Andrea Böhm