Letzte Vorstellung von Onkel Charlie

■ Kinosterben in der Friedrichstraße: Wie die Anwohner Helmut Benik und Magareta Jünemann den Abbau des Checkpoints erleben / Seit 20 Jahren Geschichte unterm Fenster / Zukünftig keine Silvesterfeier mit GIs mehr/ Hot dogs und Sekt für die Gäste in der Ehrentribüne

Kreuzberg. Als gestern am Checkpoint Charlie die Hütte der drei West-Alliierten abgebaut wird und minutenlang über dem (Grenz-)Boden schwebt, brauchen Helmut Benik (43) und Margareta Jünemann (62) aus der Friedrichstraße 44 ihren Aschenbecher nicht suchen. Extra für historische Stunden wie diese ist das Blechschälchen auf dem Fenstersims ihres dritten Stockwerks festmontiert.

Auf diesen geschichtsträchtigen Moment haben sich beide Stunden vorher auch ansonsten gut vorbereitet. Morgens um 9 Uhr ist die Blumenbank vom geöffneten Fenster weggerückt, die Gardinen aufgezogen und wird der Fensterrahmen von gehäkelten Kissen abgepolstert. In der Ecke des Wohnzimmers läuft der Fernseher, daneben steht der Feldstecher. „Wir brauchen hier kein Kino“, sagt Benik. Dafür ist es manchmal aber laut. „Letzte Nacht“, beschwert sich Frau Jünemann, „konnten wir wegen dem janzen Theater nicht schlafen.“ Das Zusammenbauen der Pressetribüne sei am störendsten gewesen. In der Nacht seien „Bier, Sekt und Würstchen“ angeliefert worden, erzählt Frau Jünemann. Herr Benik: „Die Amis essen Hot dogs.“ Doch trotz schlafloser Nacht: In der Frühe sieht man Frau Jünemann keine Müdigkeit an.

Auf der Straße - drei Stockwerke tiefer - halten 260 Pressevertreter hektisch ihre Kameras, meterlangen Teleobjektive und Richtmikrofone probeweise gen Osten. Das Paar, das seit 20 Jahren in diesem Haus wohnt, erinnert sich an den Tag, „als es am saubersten war“: beim Besuch von Ronald Reagan. Er sei damals mit „einem Bein über die weiße Linie“, erinnert sich Magareta Jünemann an den vorletzten amerikanischen Präsidenten. „Wir durften nicht 'raus“, die Scharfschützen waren damals im Treppenhaus. Heute sind sie nur auf dem Dach.

Aber nicht nur auf dem Dach ist einiges los - selbst auf der Ostberliner Seite des Checkpoints bewegt sich was, entdeckt Benik mit seinem Feldstecher überrascht: „Antennen. Ja, das Fernsehen, das Ost-Fernsehen.“ In seiner hellblauen Trainingshose läuft er zum Farbfernseher und schaltet auf den „Deutschen Fernseh Funk“ um. Normalerweise arbeitet er um diese Uhrzeit als Maschinenführer in einem Mariendorfer Kabelwerk, doch heute hat er Urlaub. Von den Außenministern sind bereits manche aus ihren dunklen Limousinen ausgestiegen, die leere Karawane rollt ohne Diplomaten weiter über die Demarkationslinie. „Der Osten wird vollgeparkt“, stellt der Maschinenführer fest.

Im Fernsehen behauptet ein Passant, daß er „seit zwanzig Jahren hier“ arbeiten würde. „Seit zwanzig Jahren“, fragt Zuschauerin Jünemann, „den kenn‘ ick jar nich‘!“ Wo nun die Fernsehübertragung begonnen hat, muß natürlich das Telefon klingeln. Eine der Töchter ist am Apparat und meldet von zu Hause aus dem hessischen Viernheim, daß sie uns gerade eben im Fernsehen gesehen hat.

Beruhigt erzählt Frau Jünemann, daß ihre Tochter die Live -Übertragung auf Video aufzeichnet. Heute geht Geschichte nicht mehr verloren. Aber zu Ende. Auch für das Anwohnerpaar Jünemann und Benik. Frau Jünemann war einmal Augenzeuge geworden, „als Kollegen einen flüchtenden Grenzpolizisten abgeschossen haben“. Den haben „sie an die Beene jefaßt und weggetragen“. So etwas wird sie wohl nie wieder erleben. Sie wird in ihrer Wohnung wohl auch nie wieder mit GIs zusammen Silvester feiern.

Unten in der Straße haben die Außenminister Genscher, Baker, Hurd, Dumas, Schewardnadse und Meckel ihre Reden beendet. GIs schließen die Türen der Checkpoint-Hütte „in Ehren“ ab und schließen damit auch ein Kapitel Geschichte. Die Kapelle spielt Berliner Luft, ein Kran zieht den Container-Bau in die Höhe und setzt ihn auf einen Lastwagen, der ihn abtransportiert.

Seit heute wohnt das Pärchen aus dem dritten Stock nicht mehr am Checkpoint Charlie - nur noch in der Friedrichstraße. Der Aschenbecher bleibt aber am Balkon.

Dirk Wildt