Gehen, um zu gehen

■ Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus".

örperliches Vergnügen, weiche Bequemlichkeit u. Anmut hat bisher diese Reise für mich wenig oder nichts gehabt; vielmehr habe ich in meinem ganzen Leben nie unbequemer und unwollüstiger gelebt als ich hier lebe...“ So mißvergnügt schreibt Herder, dem zum Reiseglück vor allem das nötige Geld fehlte, an seinen Herzog Karl August aus Rom. Auch andere Reisende der Zeit waren in Italien nicht glücklich. Karl Philipp Moritz stürzte vom Pferd und brach sich den Arm, ein kompliziertes und langwieriges Krankenlager war die Folge. Und Winckelmann, der Ahnherr aller Kunst -Enthusiasten, wurde in Triest ermordet, wahrscheinlich von einem Strichjungen wegen eines lächerlichen Geldbetrags.

Nur der einzige Goethe, so scheint es, hat Italien ungetrübt genießen können. Aber selbst er berichtet von einem Seesturm, der ihm die Überfahrt nch Sizilien verdarb. Seekrank lag er in seiner Kabine. Aber als Mann des Geistes wußte er sich zu helfen: Liegend konzipierte er im Kopf den Tasso. Die Phantasietätigkeit lenkte ihn von Angst und Brechreiz ab.

ine andere Möglichkeit, mit den Belästigungen und Gefahren einer Italienreise fertigzuwerden, fand Johann Gottfried Seume zwei Jahrzehnte später. Er vermied das Unangenehme nicht, sondern suchte es und verwandelte es in ein Abenteuer.

Am 9. Dezember 1801 machten sich Seume und sein Freund Veit Schnorr von Carolsfeld auf den Weg. Von Dresden über Wien, Venedig und Rom nach Neapel und Sizilien. Dann über Frankreich wieder zurück. 800 deutsche Meilen, also etwa 6.000 Kilometer sollten bewältigt werden, und zwar zu Fuß. Schon in Wien verließ den Reisekameraden der Mut, und Seume spazierte alleine weiter. Er überquerte den Ostrand der Alpen im Winter, obwohl er mehrfach davor gewarnt wurde. Er wanderte alleine durch die Abruzzen, die voll von Banditen und Mördern waren, wie Seume sehr wohl wußte. Später versank er beinahe in den Sizilischen Sümpfen, und den Ätna bestieg er bei Eiseskälte.

Wer um solcher Leistungen willen unterwegs ist, klagt natürlich nicht über Unbequemlichkeiten. Sie sind ja eingeplant und erwünscht. Seumes Buch Spaziergang nach Syrakus berichtet denn auch sehr knapp und kühl über alle Strapazen. Sie sind nicht der Rede wert, der Wanderer ist kein Angeber. Das macht der Titel des Buches schon klar: Der acht Monate lange Gewaltmarsch war alles andere als ein „Spaziergang“. Aber Seume gefiel sich in der Pose des harten Mannes, der mit seinen Leistungen nicht viel hermacht. Nüchtern, etwas trocken berichtet er, was er erlebt hat.

Bäche und Quellen bleiben ihm nicht als malerische Winkel im Gedächtnis, sondern als Trinkwasser-Lieferanten. Und die Gold-Orangen, die in Goethes Mignon-Versen „glühen“, verzehrt Seume pfundweise und mit Genuß. Den Weinbauern wird angeraten, ihren guten Ackerboden für Korn anstatt für Reben zu verwenden, denn Brot für alle sei wichtiger als Wein für die Reichen. Und als gründlicher Feind der Kirche sieht Seume auch den Pomp und die Pracht der Kurie mit Unwillen. Für Flitter und Spielereien hat dieser ernste Deutsche keinen Sinn. Der römische Karneval, den Goethe weitschweifig schilderte, verdient bei Seume nur das eine Wort: „Mummerei“.

Die längste Zeit seines kurzen Lebens war Seume Soldat, auch das prägt seine Wahrnehmungen. Oft genug betrachtet er Stadtanlagen mit den Augen des Eroberers: „Die Festung zu sehen muß man Erlaubnis haben, welches etwas schwer hält. Ich bemühte mich nicht darum, da ich schon so viel aus der Anlage sah, daß man mit zweitausend braven Grenadieren ohne Erlaubnis hineingehen könnte.“

Dies notierte er in Messina. Und doch war er ein Mann der Freiheit und der Gerechtigkeit, immer auf seiten der Armen und bereit, den Reichen Schlechtigkeiten nachzuweisen. Das Buch ist also politisch interessanter als die Bildungsreisebücher Goethes und seiner Nachfolger. Der Mann, der sich einerseits ausrechnete, wieviele Grenadiere man zur Erstürmung der Festung von Messina braucht, war andererseits durchaus der „vernünftige Philantrop“, als der er sich selbst bezeichnete.

ber dieser Widerspruch ist nicht so merkwürdig in einer Zeit, die von Napoleon Bonaparte fasziniert war. Seltsamer am Reisenden Seume ist schon eher, daß er seinen Marsch überhaupt unternommen hat. Was bezweckt ein so vernünftiger Mann mit einer so unvernünftigen Aktion wie einem Eilmarsch nach Sizilien?

Das haben ihn seine Zeitgenossen schon gefragt, er aber gab ihnen immer nur ausweichende Antworten: Er habe sich nur einmal wieder die Füße vertreten wollen, habe einmal ausprobieren wollen, wie Orangen schmecken und ähnliches. Alles wohl wahr, aber doch abwiegelnd wie die Bezeichnung „Spaziergang“.

Andere Gründe für seinen Marsch hätte Seume vielleicht wirklich nicht gewußt, jedenfalls aber nicht öffentlich zugegeben. Er war kein Grübler über Seelenzustände, deshalb hat er sich ja auf den Weg gemacht. Aus Briefen Seumes geht hervor, daß auch eine traurige Liebesgeschichte die Reise mit herbeigeführt hat. Eine Dame namens Wilhelmine Röder war ihm zunächst gewogen, nahm aber dann einen anderen zum Mann. Heinrich Heine hätte aus diesem Erlebnis bestimmt 100 Gedichte gemacht. Für einen so harten und prinzipienfesten Mann wie Seume aber war die Liebe als Thema damit erledigt. Auch diesen Entschluß marschierte er sich in den Körper und die Seele.

Und doch ist auch die Flucht vor dem Liebeskummer wohl noch nicht der letzte Grund für den Spaziergang nach Syrakus. Das vorherrschende Gefühl auf der langen Reise ist nämlich die Eile. Kunstwerke und Gemälde schaut Seume sehr flüchtig an und kommentiert dies mit dem lakonischen Satz: „Ich habe nicht Zeit, gelehrt zu werden.“ Manchmal beklagt er zwar, daß er dies oder jenes nicht habe anschauen können, aber dann hält es ihn nirgends. Selbst Venedig, Rom und Neapel, von denen damals jeder andere Italien-Reisende die entscheidendsten Erlebnisse erwartete, können ihn nicht allzu lange fesseln. Das Ziel, Syrakus, ist es aber auch nicht, was ihn zur Eile antreibt. Auch da bleibt er nur ein, zwei Wochen.

on diesem Bewegungsdrang ist auch der Text selbst angegriffen. Vieles bleibt Skizze, stilistisch ist Seume oft sorglos, wenn nicht sogar nachlässig. Das weiß er selbst und entschuldigt es eben mit dem Reisen, das ihm keine Zeit lasse zu gründlicher schriftstellerischer Arbeit: „Wenn ich recht viel hätte schreiben wollen, hätte ich ebensogut in meinem Polstersessel bleiben können.“ Die Reisejournale Goethes, Herders und vieler anderer registrieren sorgsam, manchmal auch pedantisch jedes Kunstwerk und jede dadurch erregte Empfindung. Seume findet an den Kunstschätzen Italiens nicht gleichermaßen Geschmack. Nur die Klassiker der lateinischen Literatur liebte er wirklich. Aber deren Studium hinderte auch seine Mobilität nicht, denn er trug sie im Tornister mit.

Johann Gottfried Seume war also ein Kilometerfresser wie viele Touristen heute auch. Er suchte Gefahren, wollte eine traurige Liebesgeschichte vergessen und gewiß auch etwas von Italien verstehen. Vor allem aber ging er, „um zu gehen“, wie sein Freund, der Buchhändler Göschen, schon bemerkte. Die Bewegung selbst war das intensivste Abenteuer dieser Reise. Davor verblassen alle Kunstbetrachtungen. Während Goethes Italienische Reise mit einem Gedicht des Ovid schließt, mündet Seumes Buch in ein Lob des Leipziger Schuhmachers Heerdegen. Der hatte die Stiefel geschustert, in denen Seume nach Syrakus und wieder zurück lief. In ähnlicher Weise lobt der Tourist heute sein Auto.