Etsch oder Adige

■ Südtirol ist eines der beliebtesten Ferienziele der Deutschen. Cletus Ossing fragt sich, ob uns auch dort die Wiedervereinigung bevorsteht.

Wenn schon Deutschland, dann richtig, wie damals!“ mag sich der Vorstand einer bayerischen rechtskonservativen Splitterpartei gedacht haben, als er den Vorschlag aufbrachte, im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gleich die Österreicher auch noch heim ins Reich zu holen. In Südtirol, das heißt im (italienischen) Tirol südlich des Brenners, würde so ein Vorschlag durchaus Interesse wecken, und das hat eine lange Geschichte.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, Louis Trenkers Krieg im Eis, wurde der Teil des k.u.k. Habsburgs, der vom Brenner aus bis nach Trento reichte, Italien zugeschlagen. Mal wieder, muß man sagen, denn erst 1814 wurde das Gebiet an der Etsch (Adige) österreichisches Territorium. Der Wechsel der Herrscher war hier eigentlich immer der Normalzustand.

Steter Wechsel lehrt viel? Der Streit zwischen den beiden Volksgruppen der Deutschsprachigen und Italienischsprachigen wurde bis in die jüngste Vergangenheit mit Sprengstoff und Pistolen geführt, Bauern und Bonzen reimt sich hier allemal auf Bomben.

Bei allen Demonstrationen der deutschen Sprachgruppe in Südtirol wird stets ein Manifest zu finden sein, auf dem das „Ende der italienischen Fremdherrschaft“ gefordert wird. Das ist durchaus eigentümlich in einer Provinz mit weitgehender Autonomie von der Zentralregierung in Rom und einer 66prozentigen Mehrheit der Deutschsprachigen; die 30 Prozent Italiener und 4 Prozent Ladiner (eine kleine, national nicht so spinnerte Gruppe) sind die eigentlichen Minderheiten in Südtirol.

Die 280.000 „Deutschen“ in Südtirol wären, wenn überhaupt, vor allem erst einmal Österreicher. Sie werden von den Italienern nur wegen ihrer Sprache „tedeschi“ genannt, fühlen sich aber durchaus „deutsch“. Ihre rechtskonservative politische Vertretung, die „Südtiroler Volkspartei“ (SVP), erzielte bei der letzten Landtagswahl vom November 1988 über 60 Prozent der Stimmen insgesamt, das heißt fast 90 Prozent der „deutschen“ Stimmen. Und die Anzahl derer, die ein Volk, ein Reich, von der Etsch bis an den Belt, wollen, ist nicht unbeträchtlich. In den 60er Jahren führte der nationale Knatsch fast täglich zu gesprengten Strommasten, demolierten Autos mit italienischen Kennzeichen und Schüssen aus dem Hinterhalt auf Carabinieri. Schließlich wurde nach zähen Verhandlungen zwischen der SVP und Rom (und zwischen Italien und Österreich) ein Autonomiestatut für die Provinz erstellt, das auf Basis eines sogenannten „ethnischen Proporzes“ der deutschsprachigen Mehrheit der Region ziemlich starke Selbstregierung und weitreichende sprachliche und kulturelle Rechte gewährt. Daher muß heute für die Verteilung staatlicher Stellen und sozialer Dienstleistungen dieser ethnische Proporz eingehalten werden. Natürlich wird dieses „deutsche“ Sonderrecht weidlich ausgenutzt: In Bozen beispielsweise müssen Deutschsprachige 27 „Bedürftigkeitspunkte“ zum Erhalt einer Sozialwohnung nachweisen, muttersprachliche ItalienerInnen dagegen 37 Punkte. Oder: Jede/r italienische Beamtin/Beamte der Provinz muß Deutsch können. Daher rührt denn auch reichlich Zorn, und der drückt sich im Pulverdampf, aber auch in Wahlen aus: die Neofaschisten vom „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) sammelten bei den letzten Landtagswahlen 10,3 Prozent ein, mehr als die Christdemokraten (DC: 9 Prozent). Eine derartige Polarisierung der beiden großen Volksgruppen erzeugt eine ziemlich ungemütliche politische Kultur, in der die multikulturelle „Grüne Liste für ein anderes Südtirol“ mit 6,9 Prozent Wählerstimmen auf ziemlich verlorenem Posten steht.

Daß sich hier Rechtsradikale verschiedener Sprache gegenseitig Bomben an den Kopf werfen, auf Kosten der Unbeteiligten, wie stets in solchen Fällen, hat ebenfalls Geschichte. Unter Mussolini wurde Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre eine ethnische radikale Politik verfolgt: In Übereinstimmung mit dem „Führer“ wurde die „Volkstumsgrenze“ am Brenner festgelegt, die Südtiroler – gleich welcher Sprachgruppe – hatten sich zu entscheiden, ob sie Italiener bleiben oder Deutsche werden wollten. Im letzteren Fall hieß das: Umzug, nein, nicht nach Deutschland, sondern in die von der Wehrmacht besetzten Ostgebiete, um als volksdeutscher Wehrbauer polnische oder ukrainische Scholle zu bestellen. Ergänzt wurde diese Siedlungspolitik durch den politisch ebenso miesen Transfer nichtsahnender Bauern aus dem Süden Italiens nach Südtirol. Hier liegt die historische Wurzel des Hasses der Nationalisten beider Sprachen aufeinander. Fairerweise muß man allerdings heute feststellen, daß es für die deutsche Mehrheit in der Provinz keinen Grund mehr gibt, über die „italienische Fremdherrschaft“ zu jammern, im Gegenteil.

Südtirol war seit Jahrhunderten das Durchgangsland zwischen dem Norden und Italien. In jeder Stadt an der Etsch finden sich Einflüsse aus verschiedenen Epochen und Kulturen ganz Europas. Erst die Entwicklung der Nationalstaaten brachte die Engstirnigkeit ins Land: Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde unter nationalistischem Gedröhne in Bozen das Denkmal Walthers von der Vogelweide eingeweiht, der von seinem Podest am Waltherplatz stolz nach Süden starrt. In Trento guckt ihm adäquaterweise Dante Alighieri nordwärts entgegen. Daß die Forschung den Geburtsort Walthers (entweder in der Nähe von Nürnberg oder in Lajen/Südtirol) nicht genau kennt, ist dabei egal: die Deutschsprachigen legen den Geburtsort in Südtirol, am Eingang des Vilnösser Tals, einfach fest, bis heute. Jede Apotheke, jedes der durchaus vorzüglichen Konditorei-Cafes in Bozen heißt denn auch irgendwas mit „Walther“.

Der relative Reichtum Südtirols kommt vom Obstbau und Fremdenverkehr. Ganz Europa ißt Äpfel aus Südtirol. Es gibt hier keine idyllischen Obstgärten, auch wenn die Fremdenverkehrsbroschüren die Schönheit von Millionen Apfel und Birnbäumen loben: Monokultur mit den dazugehörigen Folgen wird hier betrieben. Von den früher mal über 50 verschiedenen Apfelsorten sind fünf übriggeblieben, die in nennenswerter Menge produziert werden, allen voran der nach Wasser schmeckende Industrieapfel „Golden Delicious“, der weit über die Hälfte der verkauften Tonnenmengen ausmacht.

Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts wird hier Tourismus und Landwirtschaft industriell betrieben: 1867, als das Kapital erschien, wurde die Brenner-Eisenbahn eröffnet, zwischen 1880 und 1890 wurde der Adige-Talboden zwischen Meran und der Salurner Klause entsumpft; Meran wurde zur Wiege des Fremdenverkehrs, das Etschtal zur Obstbaulandschaft. Mittlerweile gibt es kaum einen Hang, auf dem kein Skilift steht, keine Wiese, durch die kein „Wanderweg“ genannter Trampelpfad geht. Nur ein Siebtel der 740.000 Hektar Südtirols sind landwirtschaftlich nutzbar. Es ist leicht auszumalen, was es im ökologisch hochempfindlichen Alpengebiet bedeutet, wenn nicht mehr Vielfach-Landwirtschaft betrieben wird, sondern Monokultur, und wenn Almwiesen zu Skiflächen verkommen. In der Tat haben Erdrutsche als Folge von Almzerstörung und Waldabholzung für Sessellifte dramatisch zugenommen.

Dabei ist Südtirol noch recht gut dran: Immerhin sechs Naturparks bedecken 12 Prozent der Gesamtfläche des Landes. Aber auch hier gibt's keine Ruhe: die SVP hat für das größte Gebiet, den Nationalpark von Stelvio, eine Verkleinerung um mehr als ein Siebtel vorgeschlagen; der Rest soll zur Hälfte kein Nationalpark bleiben, sondern ein unter Leitung der Provinz stehender Naturpark. Die Verkleinerung soll wozu dienen? Mehr Tourismus. Wer sind die Tourismus –Industriellen? Mehrheitlich Deutschsprachige. Und welche Partei wählen diese fast durchweg? Richtig: Hinter all dem Volkstum steckt letztlich auch nur – Geld.