MARCIA PALLY

 ■ Short Stories from America: Nachhilfe in Sachen Demokratie

Auf der Titelseite der New York Times war neulich folgende Überschrift zu lesen: „Weißes Haus erteilt Kreml Nachhilfe in Sachen Präsidentschaft“. Es ist wirklich sehr nett von Mr. Bush, dachte ich im stillen, sich den ehemaligen Ostblockländern freiwillig als Vorbild und Modell anzubieten. Immerhin haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg mit großem Erfolg die Achsenmächte so gut angelernt, daß ich sicher bin, Mr. Bushs großzügige Nachhilfe wird Osteuropas Weg in die Freiheit ungeheuer beschleunigen. Amerika ruft Mr. Havel, dem wir zu seinem Wahlerfolg gratulieren, und allen jungen Demokratien ein herzliches Willkommen zu.

Demokratie - das wird Mr. Bush den ehemaligen roten Schurken sicherlich längst erklärt haben - bedeutet, daß die Menschen das bekommen, was sie sich wirklich wünschen. Auch wenn der Weg dahin oft reichlich dunkel und umständlich erscheinen mag, am Ende erreicht er immer sein Ziel. Nehmen wir ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Die Amerikaner wünschen sich in der Tat das neue Tonträger -Etikettierungssystem, das dafür sorgt, daß jede Schallplatte, Kassette und CD einen Aufkleber bekommt, auf denen vor Texten gewarnt wird, in denen von Sex, Gewalt oder Okkultismus die Rede ist. Ähnlich wie bei dem Klassifizierungssystem für Filme und Videos haben viele Läden alle Platten, die unter die Kategorie „X“ fallen, in die hinterste Ecke verbannt oder führen sie überhaupt nicht. Ebenfalls wie bei der Filmzensur werden jetzt also auch Musikaufzeichnungen von einer Gruppe anonym bleibender Leute begutachtet, die von niemandem gewählt wurden und daher auch niemandem verantwortlich sind und die darüber hinaus, da es sich um eine private (nicht etwa eine staatliche) Einrichtung handelt, auch nicht an die bestehenden Einschränkungen des staatlichen Zensurrechts gebunden sind.

Auf den ersten schüchternen Blick mag es den Anschein haben, als sei diese Einrichtung, mit der der privaten Meinung einer Handvoll unbekannter Leute eine so große Macht über eine Kunstform eingeräumt wird, nicht vereinbar mit dem demokratischen Grundprinzip der Freiheit der Kunst. Im Endeffekt sieht es jedoch so aus, daß die Amerikaner genau das bekommen, was sie sich wünschen. Diese Etiketten machen es schließlich leichter für uns, potentiell kontroverse Platten auf den ersten Blick zu erkennen, und warum sollten wir uns schließlich mit einer Platte abgeben, die unsere Eltern nicht in Rage versetzt?

Warum sollten wir uns mit einem Buch abgeben, das bei ihnen nicht die gewünschte Empörung auslöst? So ziehen also die Saubermänner Bücher wie Das Tagebuch der Anne Frank, Schlachthaus Fünf, Wer die Nachtigall stört und Huckleberry Finn (alles Bücher, die auf der „Most Censored“ Liste der American Library Association stehen) aus dem Verkehr, und im elterlichen Keller fertigen die Jugendlichen Raubkopien dieser Werke an. Mag auch das amerikanische Schulsystem bei der Aufgabe versagt haben, den Amerikanern literarische Bildung zu vermitteln, der Buchzensur wird das mit Sicherheit gelingen.

Das gleiche gilt auch für die Bildenden und Darstellenden Künste. Natürlich wünschen wir uns, daß das neue Album der Rockgruppe „2 Live Crew“ wegen Obszönität auf den Index kommt, wie es neulich in Florida geschah, und wir wollen, daß auch Robert Mapplethorpes Photographien indiziert werden, wie es kürzlich in Cincinnati passiert ist. Ikonoklastische Werke haben in der amerikanischen Tradition immer schon eine bedeutende Rolle gespielt. Man braucht sie nur im Kunst- oder Literaturunterricht zu behandeln, und schon schläft alles ein. Wieviele Menschen sieht man schließlich Schlange stehen, um sich Fidelio oder die Federalist Papers zu kaufen? Abgesehen vielleicht von den Menschen in Osteuropa - aber das ist ja gerade der Punkt. Man braucht etwas nur zu verbieten, und schon erhöht sich die Nachfrage ganz von selbst.

Ich habe es aufgegeben, Spendenschecks an Organisationen zu schicken, die sich der Förderung der Künste widmen. Ich schicke mein Geld jetzt direkt an Senator Jesse Helms. Wer hat wohl mehr dafür getan, die Amerikaner daran zu erinnern, wie wichtig die Nationale Stiftung für die Künste ist, als dieser Mann, der damit droht, die Stiftung aufzulösen, und der „Anstands„-Klauseln für alle Empfänger von Stipendien dieser Organisation durchgesetzt hat? Wer hat mehr dafür getan, so wichtige Künstler wie Karen Finley zu unterstützen, die in der Öffentlichkeit weithin unbekannt war, bis Helms damit anfing, in der Presse und in der Öffentlichkeit Beschreibungen ihrer Performances vorzulesen? Wer hat mehr dafür getan, den Namen Mapplethorpe in jedem Haushalt zu einem Begriff zu machen, als dieser Mann, der seit einem Jahr gegen alle seine Ausstellungen zu Felde zieht? Nach Angaben von Mapplethorpes Nachlaßverwaltern haben sich die Preise für seine Photographien verdreifacht, seit Senator Helms seine Kampagne begann. Sie liegen jetzt zwischen 35.500 und 37.500 Dollar pro Bild. Finley und Mapplethorpe sind zwei meiner Lieblingskünstler. Seit Helms im Kongreß für mich arbeitet, weiß ich, daß meine Steuerdollars endlich sinnvoll verwendet werden.

Außerdem bin ich dazu übergegangen, politische Spenden an diejenigen Volksvertreter in Idaho und Louisiana zu schicken, die in den Parlamenten ihrer Staaten die strengsten und restriktivsten Abtreibungsgesetze der jüngeren Geschichte eingebracht haben. (Der Gesetzentwurf für Idaho beispielsweise gibt „Vätern“ ein Vetorecht bei Abtreibungen auch dann, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist.) Die Wahlen im letzten November haben es gezeigt: Jedesmal, wenn ein Entwurf für ein solches Abtreibungsgesetz eingebracht wird, das nur die Engelmacher unterstützt, verliert ein Konservativer seinen Parlamentssitz. Dies ist in der Tat die beste Strategie, die sich die Liberalen seit Jahren haben einfallen lassen.

Auch die katholische Haltung zur Abtreibungsfrage hat mir gut gefallen. Mitte Juni verkündete der New Yorker Kardinal O'Connor, daß katholische Politiker, die für das Recht auf Abtreibung eintreten, damit rechnen müßten, exkommuniziert zu werden. Gibt es einen besseren Anreiz für abtrünnige und progressive Katholiken - ganz zu schweigen von Anti-Papisten -, sich für das Recht auf freie Entscheidung bei Schwangerschaften einzusetzen, das von der Mehrheit der Amerikaner wirklich gewünscht wird, wie alle Umfragen immer wieder gezeigt haben? In einer wirklich reifen Demokratie arbeitet eben selbst die Kirche für die Menschen.

O'Connors Ankündigung kam darüber hinaus noch einem weiteren Wunsch der Bürger entgegen. Dadurch, daß er katholische Abgeordnete unter Druck setzt, damit sie gemäß religiöser Vorschriften abstimmen, unterläuft O'Connor ganz offensichtlich auch die Trennung von Kirche und Staat, die für moderne Demokratien von so grundlegender Bedeutung ist. In der Tat unterläuft er damit die Glaubwürdigkeit und Eignung von katholischen Parlamentariern. Seit John F. Kennedys Wahlkampf im Jahre 1960 haben die Amerikaner katholische Politiker toleriert und JFKs Auffassung geteilt, daß Katholiken durchaus in der Lage seien, amerikanisches Recht über vatikanisches Recht zu stellen. Aber die Mehrheit der Amerikaner mag keine Katholiken - eine Haltung, die sie bereits 1928 deutlich gemacht hat, als sie sich weigerte, Al Smith ihre Stimme zu geben - einem weiteren Präsidentschaftskandidaten, der behauptete, auch Katholiken seien Amerikaner. So ein Unsinn. Die meisten Amerikaner warten schon seit Jahrzehnten auf einen Anlaß, um nicht für Katholiken zu stimmen, und jetzt haben sie ihn. Für die Osteuropäer ein sehr anschauliches Beispiel für die praktische Anwendung des Mehrheitsprinzips.

Die neuen Alkoholtests für Verkehrsteilnehmer, die vom Obersten Gerichtshof in diesem Monat für verfassungsmäßig erklärt wurden, sind ebenfalls ein schönes Beispiel für den Willen des Volkes. Ich kann durchaus verstehen, daß die Osteuropäer, die so lange unter polizeilichen Übergriffen zu leiden hatten, jetzt vielleicht glauben könnten, wenn man der Polizei das Recht gibt, nach eigenem Ermessen jeden Autofahrer (auch ohne den Verdacht auf Alkoholgenuß) anzuhalten und zu durchsuchen, dann sei das eine gefährliche Machtbefugnis für Polizisten und ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre. So dachten jedenfalls auch diejenigen Bundesrichter, die gegen diese Entscheidung gestimmt hatten, und zwar mit der Begründung: „Wenn das Gericht die Auffassung vertritt, daß keinerlei Verdachtsmomente erforderlich seien, damit die Polizei einen Wagen anhalten kann..., dann wird dadurch die Öffentlichkeit unter Umständen der Willkür und Schikane durch die Polizei ausgesezt.“ Diese Einwände erwecken allerdings bloß den Eindruck, die Entscheidung sei umstritten gewesen: Was sie nur noch beliebter machen dürfte. Die neuen Alkoholkontrollen werden dafür sorgen, daß der Alkohol als eine noch verführerischere „verbotene Frucht“ betrachtet wird. So werden andere Drogen wie Crack zweifellos einen Teil ihrer Faszination verlieren, und das ist etwas, was sich alle Amerikaner wirklich wünschen. Das ist Demokratie in Aktion.

Zu Beginn dieses Jahres wurde im Parlament des Staates Washington ein „Petting„-Verbot für Minderjährige unter 18 eingebracht. Ich bin sicher, dahinter stand die gleiche Logik. Man braucht nur das Petting zu verbieten, und sofort werden die heimlichen Aktivitäten auf dem Autorücksitz rapide zunehmen. Was die Kids davon abbringt zu fixen oder zu schnupfen - ganz zu schweigen davon, daß sie auf diese Weise noch weniger Zeit haben werden, es wirklich zu tun. Wenn es gelingt, mit diesem Verbot das Petting genügend ins Gerede zu bringen, dann nimmt vielleicht die Lust auf andere Formen sexueller Betätigung ab. Möglicherweise wird mit Hilfe des Petting-Verbots dann erreicht, was die Androhung von Schwefel und Höllenfeuer nicht geschafft hat: Jugendliche vom Geschlechtsverkehr abzuhalten.

Osteuropäische Studenten des amerikanischen Rechtssystems mögen sich vielleicht auch gefragt haben, auf welche Weise ein Verbot des oralen Geschlechtsverkehrs zwischen mündigen Erwachsenen (sogar zwischen Ehepartnern) die Qualität des demokratischen Lebens verbessern hilft. Sowohl in Georgia als auch North Carolina wurden in jüngster Zeit mehrere Männer wegen dieses Verbrechens zu Gefängnisstrafen verurteilt. Jedem, der auch nur einen Schimmer davon hat, wie Demokratie funktioniert, ist sofort klar, daß Oralverkehr durch ein solches Verbot erst recht sexy wird. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß Eheleute sich verstärkt dieser Praxis widmen und ihnen die Ehe wieder mehr Spaß macht. Was wiederum die Monogamie fördert und ein stabiles Familienleben. Auch das ist etwas, was die Amerikaner sich wirklich wünschen, zumindest für alle anderen. Übersetzt aus dem Amerikanischen

von Hans Harbor