Ein Neubeginn am symbolischen Ort?

■ Interview mit dem Ingenieur Jurij Leonidowitsch Tschernyschow, Vorsitzender der Saratower Abteilung der Gesellschaft „Memorial“, Mitglied der örtlichen sozialdemokratischen Gruppe, Mitglied des Organisationskomitees zur Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Partei.

taz: Sie haben auf dem Gründungskongreß der russischen Sozialdemokraten am 7.Mai geäußert, daß die Repressalien der örtlichen Machthaber gegen die Saratower demokratischen Gruppen nur ein Teil einer Strategie seien, die sich gegen die Errichtung einer deutschen Autonomen Republik richten?

Tschernyschow: Um die Verbindung aufzuzeigen, muß ich ein wenig ausholen. Im Dezember letzten und im Januar dieses Jahres kam es im Saratower Verwaltungsgebiet, auf dem Territorium der ehemaligen Wolgadeutschen Sowjetrepublik, zu einer Welle von Massenveranstaltungen mit chauvinistischen Losungen, zum Beispiel „An der Wolga gibt es für Deutsche kein Land“, „Deutsche ja, Autonome nein!“, „Kein drittes Deutschland im Herzen Rußlands!“. Diese Losungen sind allerdings harmlos im Vergleich zu dem Ton, der in den Reden auf diesen Veranstaltungen angeschlagen wurde.

Es existiert doch ein Appell der Gesellschaft der Sowjetdeutschen, „Wiedergeburt“, an die Bevölkerung, daß man nicht daran denke, auch nur einen einzigen der heutigen Einwohner des Wolgagebietes um sein Haus oder seinen Arbeitsplatz bringen zu wollen.

Diesen Appell hatte die „Wiedergeburt“ eigens auf Russisch und in kyrillischen Lettern setzen lassen, aber alle örtlichen Zeitungen haben den Abdruck monatelang abgelehnt. Wie überall in der russischen Provinz gibt es bei uns praktisch nur eine Tageszeitung, 'Kommunist‘, des Stadtexekutivkomitees und eine Jugend-Wochenzeitung, bei uns heißt sie 'Morgenröte der Jugend‘, dazu einige winzige Bezirksblätter, die die Auftritte auf diesen Meetings noch ausführlicher wiedergaben. So stand zum Beispiel in der Zeitung des Bezirkszentrums Stepnoje ein Redebeitrag, in dem es hieß: „Als die Güterzüge mit Deutschen von hier nach Osten fuhren, wurden sie von der faschistischen Luftwaffe nicht bombardiert, im Gegensatz zu den Zügen, die unsere eigene Bevölkerung evakuierten“..“ Dies enthält implizit die alte verleumderische Anklage, alle Deutschen an der Wolga seien Hitlers Spione gewesen. Die Absurdität wird deutlich, wenn man bedenkt, daß zwischen beiden Ereignissen ein Jahr lag und daß die deutschen Flugzeuge im August 41 die Wolga noch gar nicht erreichten.

Aber von solchen provokatorischen Aussagen strotzen die Kleinstadtblätter an der Wolga. An den beschriebenen Meetings nahmen Mitglieder des Parteibezirkskomitees teil, ohne den Mund aufzumachen. Das heißt, sie unterstrichen durch ihre Anwesenheit praktisch die Wahrheit der verleumderischen Behauptungen. Später wurde die Kampagne dann mächtig aufgeblasen, und die Texte und Resolutionen der antideutschen Kundgebungen wurden in Staats- und Parteidruckereien in hohen Auflagen vervielfältigt, als Flublätter verteilt und im Posterformat an die Wände angeschlagen. Im Dezember wurde dann in der Stadt „Marx“, auf dem Saratow gegenüberliegenden hohen Wolgaufer, die antideutsche Gesellschaft „Vaterland“ gegründet.

Diese Gesellschaft wurde sofort juristisch registriert, während sämtlichen demokratischen Gruppen bisher der Status eines eingetragenen Vereins verweigert worden ist. Und schon im März verkündete die 'Morgenröte der Jugend‘, auf dem „Vaterland„-Konto befänden sich fünfzehntausend Rubel. Heute geht diese Summe unseres Wissens in die Hunderttausende. Woher kommt dieses Geld? Aus Mitgliedsbeiträgen? Das wäre ja zum Lachen! Weiter wurden „Besucherkolonnen“ von Hunderten antideutscher Demonstranten in Nachbarbezirken mit Bussen und Wagen organisiert. In Saratow selbst traute man sich so etwas allderdings nicht. Hier wuchs der Widerstand der demokratischen Gruppen. Und als Gegengewicht zu „Vaterland“ gründeten das Saratower „Memorial“, die Sozialdemokraten, Mitglieder der örtlichen Volksfront und einer Reihe anderer Organisationen die Gesellschaft „Gerechtigkeit“, um die Idee der Wiederherstellung einer deutschen Autonomie an der Wolga zu unterstützen.

Wo liegen denn die Wurzeln des Widerstandes gegen die wolgadeutsche Autonomie?

Diese Wurzeln enthüllte nolens volens der Sekretär des Bezirksparteikomitees Murenin. Etwa im August vorigen Jahres antwortete er bei einem Auftritt vor einem Arbeitskollektiv auf die Frage, wie er zu einer deutschen Autonomie stehe, sinngemäß: „Sie können sich bestimmt vorstellen, daß im Fall der Wiederherstellung einer deutschen Autonomie der Saratower Bezirk kleiner würde als der von Pensa.“ Nun ist es geradezu ein Gesetz, daß alle unsere Ersten Parteisekretäre anschließend auf gute Posten in Moskauer Ministerien oder in das ZK abwandern. Würde der Bezirk verkleinert und an Bedeutung verlieren, dann würden sich natürlich solche persönlichen Chancen verringern. Und daß bestimmten Persönlichkeiten der Weg nach oben versperrt werden könnte, ist eine der Haupttriebfedern des Widerstandes gegen die deutsche Autonomie. Murenin entwickelte seinen Gedanken auch weiter, etwa so: „Stellt Euch vor, wenn jetzt die Deutschen kämen, müßten wir die Fabriken und Unternehmen 'anderen Leuten‘ übergeben.“

Und die Volksfront in Saratow hat wirklich nichts gegen eine „Deutsche Autonome Republik“?

Sie hat bestimmte Bedingungen dafür benannt, aber außer der KPdSU hat sich keine einzige der Saratower gesellschaftlichen Organisationen an der Schürung von Nationalitätenhaß beteiligt. Ich glaube, die obigen Aussagen reichen aus, um die Rolle des Bezirkskomitees bei den Ereignissen in diesem Frühjahr zu beleuchten. Es hat nicht nur die Meetings in jeder Weise begünstigt, sondern es ist bereits dabei, einen Streik für den Fall eines positiven Beschlusses zur Deutschen Autonomie zu initiieren. Auf Flugblättern und in der Presse wurde die Drohung verbreitet, daß in einem solchen Fall die Erdöl- und Erdgasleitungen, die von Sibirien aus durch das Saratower Gebiet nach Westeuropa führen, gesperrt werden könnten. Wenn dann Gewalttätigkeiten ausbrechen, wird die Presse hinterher wieder fragen: „Wie konnte es nur dazu kommen?“ Dabei kann man im gegenwärtigen Stadium sehr gut verfolgen, wie und von wem das alles „gemacht“ wird.

Nach dem Prinzip „teile und herrsche“?

Ich möchte dazu einen symbolischen Ort beschreiben. Im letzten Jahr hat die Saratower Gesellschaft „Memorial“ im Zuge der Erforschung unserer Vergangenheit eine Autofahrt über das gesamte Gebiet der ehemaligen Wolgadeutschen Republik veranstaltet. Dabei kamen wir auch nach Ust -Zalicha, das früher „Messer“ hieß, auf dem hohen Wolgaufer. Dort erheben sich die Ruinen der ehemaligen Kathedrale, die ein bißchen wirken wie der Reichstag kurz nach dem Brand. Auf dem Platz davor flattern und glitzern unendlich viele Aluminiumpartikelchen herum, wie sich herausstellte, Abfälle aus einem Straflager für Minderjährige, die hier Kinderschlitten herstellen müssen. Von dem Abfallhaufen zur Kolonie führt eine großartig asphaltierte Straße. Auf dem alten Friedhof hinter der Kathedrale hat man irgendwann einmal Häuser gebaut, in die aber wegen der dumpfen Grabesluft niemand einziehen wollte, und links daneben prangt an einem heruntergekommenen Schuppen ein Schild mit der Aufschrift: „Agitpunkt“. Und da fragt man sich doch, wofür wird hier zitiert: für den Zerfall der Kultur, für das Leben auf dem Friedhof, für die Freiheitsberaubung oder die Straße, die am Stacheldraht endet? Und man erkennt, daß es nicht um die Frage „Russen oder Deutsche“ geht, sondern um den Zustand, in den das ganze Volk in unserem Staat in den letzten Jahrzehnten versetzt wurde.

Wir haben schon kaum mehr die Energie, an den Punkten wieder neu anzusetzen, wo die Zerstörung unserer Kultur begann. Und gerade in dieser Hinsicht könnten die Deutschen neue Impulse in unsere Gegend bringen.

Glauben Sie denn, daß sich überhaupt viele Sowjetdeutsche zur Verwirklichung einer solchen Pioniertat bereitfänden? Ist nicht die Anziehungskraft des Lebens in der Bundesrepublik stärker?

Auch wenn es nur wenige sind, sollten sie wissen, daß es am Ort genug Russen gibt, die bereit sind, ihre Kräfte zu vervielfachen, wie übrigens auch die meisten Kooperativen. Ich selbst bin zum Beispiel Mitglied einer Baukooperative, die schon konkrete Überlegungen angestellt hat, wie wir den Deutschen helfen könnten, ihre Republik im wahrsten Sinne des Wortes vom Fundament an aufzubauen. Und dabei lassen wir uns nicht nur von Idealismus leiten, sondern auch von wirtschaftlichen Erwägungen.

Interview: Barbara Kerneck